Gunnar Staalesen

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

scanned 2007/V1.0

Gunnar Staalesen ist ein mit allen Wassern des Krimi-Genres gewaschener Autor. Mit einer raffinierten Mischung aus Klischee und authentischer Gegenwartsschilderung ist Im Dunkeln sind alle Wölfe grau ein Roman von ungewöhnlicher Intensität und voller Atmosphäre. Dan Turell, dänischer Krimi-Autor von Rang, nannte das Buch begeistert einen langen slow blues. Wer denkt dabei nicht an Raymond Chandlers legendären Philip Marlowe? Varg Veum hat vieles mit Marlowe gemeinsam. Eins aber hat er ihm voraus: Der deutsche Leser kann ihn noch entdecken.

ISBN: 3-926 099-03-8
Original: I mørket er alle ulver grå (1983)
Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann
Verlag: Wolfgang Butt
Erscheinungsjahr: 1. Auflage 1987
Umschlaggestaltung: Vibe Punger

Buch

Man soll schlafende Hunde nicht wecken. Und Wölfe schon gar nicht. Genau diesen Fehler macht der pensionierte Kriminalbeamte Hjalmar Nymark, als er auf eigene Faust in einem seinerzeit ungeklärten Fall neu zu ermitteln beginnt. Bei einem mysteriösen Autounfall wird Nymark schwerverletzt und wenig später unter verdachterregenden Umständen in seiner Wohnung tot aufgefunden. Sein Freund Varg Veum, Privatdetektiv und Aqavittrinker, nimmt die von Nymark freigelegten Spuren auf. Sonstige unveränderliche und veränderliche Kennzeichen Veums: Minifahrer, Melancholiker und Marathonläufer im hinteren Teil des Feldes. Sein Revier ist die Regenstadt Bergen an der Westküste Norwegens. Wir lernen sie auf Veums Streifzügen kennen, wie sie nicht im Baedecker beschrieben steht.

Autor

Gunnar Staalesen, 1947 in Bergen geboren, zählt seit Jahren zu den führenden norwegischen Kriminalromanautoren. Seinen Durchbruch errang er mit den im Milieu seiner Heimatstadt Bergen angesiedelten Varg Veum-Romanen. Im Dunkeln sind alle Wölfe grau ist Staalesens zehnter Roman.

1

Ich traf Hjalmar Nymark in dem Lokal, das in dem Winter, als Solveig mich verließ, zu meiner Stammkneipe geworden war.

Aufgefallen war er mir schon vorher. Er hatte ein markantes Gesicht mit einer krummen, auffälligen Nase, dunklen und lebhaften Augen, die tief in den Höhlen lagen, und einem energischen Kinn. Ich schätzte ihn auf um die siebzig. Das Haar war fast weiß und so glatt nach hinten gekämmt, daß er tiefe Geheimratsecken bekam. Er hatte die Angewohnheit, mit einer zusammengerollten Zeitung in der einen Hand dazusitzen. Ich sah ihn selten darin lesen, jedoch benutzte er sie, um wichtige Gesprächspunkte zu unterstreichen, wobei er sie auf die Tischplatte schlug.

Er war kräftig gebaut, was ihn untersetzt wirken ließ, obwohl er mindestens 1,80 groß war. Der Bauch war von der Sorte, wie ihn alternde Kraftprotze haben: kein loser Speck, sondern nur Muskeln, die anfangen auszuleiern. Gewöhnlich saß er ein oder zwei Tische von mir entfernt. Meistens war er allein, doch ab und zu hatte er Gesellschaft. Es kam vor, daß wir einander in der Tür begegneten, und nach einiger Zeit merkte ich, daß er mich wiedererkannte. Er hatte ein humorvolles Funkeln in den Augen, und einmal, als ich gerade hineinging und er gerade herauskam, sagte er im Vorbeigehen: »Na, rein zur Tränke?« Dann war er vorbei, ehe ich ihm antworten konnte.

Das Lokal lag drei Häuser weit von meinem Büro entfernt, und es hatte sich so ergeben, daß ich an drei-vier Nachmittagen in der Woche hereinschaute. Schon am Eingang spürtest du etwas von der Eigenart des Lokals, denn egal zu welcher Tageszeit du hineinwolltest, immer kam gerade jemand heraus, und dieser Jemand war selten sonderlich sicher auf den Beinen. Der Türsteher war die Hilfsbereitschaft in Person: wies dich in deine Richtung oder stand und hielt dich aufrecht, bis das Taxi kam. Die meisten brauchten ein Taxi.

Innen, gleich hinter der Tür, war etwas, das der Lokalität einen fast internationalen Anstrich gab. Eine Glasluke führte in den Tabakladen nebenan, als säße dort der örtliche Buchmacher. Aber das äußerste, was du hier erreichen konntest, war, mittwochs kurz vor fünf deine Lottoscheine abzugeben, ohne im Regen zu stehen.

Der Dunst von Bier und Tabakqualm verlieh dem Ort eine ausgeprägt maskuline Atmosphäre. Die meisten tranken Bier, oft in imponierenden Mengen. Die Gesichter um dich herum waren feist, viele vom Alter, mehr noch vom Alkoholkonsum. Hier versammelten sich alte Stauer und redeten von damals, als der größte Teil der Arbeit im Hafen noch von Hand erledigt wurde. Hierher kamen die Markthändler nach Arbeitsschluß; mit großen roten Pranken, in den Furchen noch Streifen von Fischblut. Es kamen pensionierte Industriearbeiter in einfarbigen Arbeitshemden, die bis zum Halsbündchen zugeknöpft waren, husteten häßlich und rauh über den Schaum auf den Biergläsern, hauten auf den Tisch und verlangten nach mehr. Ein kleiner Kontorist mit dünnem Haar, weißem Hemd und blutarmem Schlips schlug behutsam die Nachmittagszeitung auf, duckte sich hinter dem halben Liter und schob die Heimkehr zur Madam um noch eine halbe Stunde hinaus. Junge, redselige Burschen vom Lande, die so früh am Nachmittag dem Abend schon so nah waren, daß man sie sonst nirgends mehr hereinließ, wurden an einen gastfreundlichen Tisch gelotst, verstreuten ihre letzten Scheine um sich und prosteten einander mit geröteten Gesichtern zu, bevor sie ein paar Stunden später auf allen Vieren, vom Türsteher und, wenn sie allzu übermütig wurden, vielleicht ein oder zwei Kellnern hinausbefördert, aus der Tür krochen. Einige wenige Frauen – die meisten weit über fünfzig – fanden freie Plätze und bekannte Gesichter an den meisten der Tische. Sie tranken Bier aus kleineren Gläsern und saßen in ihren Mänteln da, bis sie sie zu fortgeschrittener Stunde aufknöpften und die schweren Brüste hinter blauen Mohairpullovern prangen ließen, die vor zwanzig Jahren modern gewesen waren.

Durch die Fenster nach Norden sickerte durch nikotinvergilbte Gardinen das Nachmittagslicht herein, und zwischen den Fenstern hingen bräunliche Keramikreliefs auf grünem Grund. Ganz hinten im Raum, wo die Theke stand, schilderte ein großes Wandgemälde in verblaßtem Blau vor gelblichem Gipsgrund die Geschäftigkeit des Hafens, damit der größte Teil der Kundschaft sich zuhause fühlte. Kräftige Pranken hoben schwere Fässer gegen dunkle Schiffswände.

Die Decken auf den Tischen waren verschiedenfarbig, und wenn du von der Straße hereinkamst, konnte es aussehen, als seien sie nach einer Art Muster aufgelegt; aber wenn du eine Weile gesessen hattest, sahst du, daß sie je nach Laune des Schicksals gewechselt wurden, sobald zuviel Bier oder Asche darauf verschüttet worden war. Die Kellner glitten in burgunderroten Jacken zwischen den Tischen hindurch, verteilten große Gläser an die Auserwählten und wechselten Tischdecken mit einer Effektivität, die einem Leichenwäscher imponiert hätte.

Das Essen, das sie servierten, war einfach und gleichförmig, ohne weitere Raffinessen als einem Petersilienbüschel oder einem zerknitterten Salatblatt, aber es war solides, gutes Essen, von dem man satt werden konnte, ohne sich zu ruinieren. Es kam vor, daß ich dort Mittag aß, doch meistens trank ich nur ein Glas Bier oder auch zwei. Ich kaufte meistens im Vorbeigehen beim Tabakhändler nebenan ein paar Tageszeitungen, suchte mir einen kleinen Tisch hinten an einer der Wände und saß dort für mich allein.

So vergingen die Nachmittage an drei-vier Tagen in der Woche, wie Ruderschläge auf stiller See. Die Minuten tropften auf die Wasserfläche, und ab und zu ruhtest du dich auf den Rudern aus, nur um die Zeit verstreichen zu sehen – wie die Schlagzeilen in der Zeitung vor dir: Nachrichten von gestern, die schon in Begriff waren, Geschichte zu werden.

Nach ein paar Monaten hatten mehrere der anderen Stammgäste angefangen, mich zu grüßen, und an einem Tag Ende April kam ich mit Hjalmar Nymark ins Gespräch.

2

An dem Nachmittag, an dem wir miteinander ins Gespräch kamen, war kaltes, durchdringendes Regenwetter mit vereinzelten kleinen, grauen Schneeflocken vermischt. Frühling war in diesem Jahr Ende März gewesen. Jetzt wanderten wir wieder rückwärts durch die Jahreszeiten, und das Wetter erinnerte eher an November als an April.

Ich hatte den Tag damit verbracht, Postkarten an Freunde und Bekannte zu schreiben. Es blieb bei einer, an einen Typ namens Veum, der irgendwo da oben zwischen Stølen und Skansen wohnte. Er würde sich sicher freuen, von mir zu hören. Danach hatte ich den automatischen Anrufbeantworter der Kinozentrale angerufen, um mir eine dreißig-Sekunden-Ansage zu einem der Filme des Tages anzuhören. Alles, was ich trotz wiederholter Versuche zu hören bekam, war das Besetztzeichen. Weitere Anrufe unterließ ich. Es war unklug, das Konto zu sehr zu belasten. Am Tag zuvor hatte eine Annonce in der Zeitung gestanden: NEUERÖFFNUNG! Harry Monsen AG, Detektivbüro, hat jetzt eine Zweigstelle in Bergen eröffnet. Internationales Kontaktnetz, neueste elektronische Hilfsmittel, Überwachungsdienst, Personenermittlungen, Nachforschungsaufträge aller Art. Erstklassige Mitarbeiter, hundertprozentige Diskretion. Ich hatte die Annonce genau studiert und fragte mich, was sie wohl mit ›erstklassig‹ und ›hundertprozentig‹ meinten. Vielleicht sollte ich anrufen und fragen – oder jedenfalls anrufen und ihnen viel Glück wünschen. Die Telefonnummer stand in der Annonce. Mobiltelefon hatten sie auch. Alles, was ich hatte, war ein schlummerndes Telefon und ein Morris Mini, den auszuwechseln ich mir nicht leisten konnte, der aber längst reif war für die ewigen Asphaltgründe. Kein Zweifel, ich ging härteren Zeiten entgegen.

Es war ein Tag, um sich an ein oder zwei Gläsern zu stärken, und glücklich draußen im Regenwetter, schlug ich den Mantelkragen hoch, zog den Regenhut tief in die Stirn und trabte das kurze Stück zum Lokal.

Das Lokal hatte noch eine Besonderheit. Wenn du hereinkamst, schien es immer, als sei volles Haus, aber sahst du dich ein wenig um, war immer irgendwo ein freier Platz. An diesem Nachmittag sah es allerdings aus, als hätte der Regen alles, was sich sonst auf der Straße herumtrieb, hereingescheucht, und ich konnte mich gerade noch an einen winzigen Tisch zwängen, auf dem weiße Aschenbecher mit Reklame für italienischen Wein gestapelt standen.

Ein Kellner kam und räumte die Aschenbecher weg, bevor er fragte, was ich haben wolle. Ich bestellte ein halbes Pils und ein Walsteak und sah mich im Raum um. Es dampfte aus nasser Kleidung, und roch nach selbstgedrehten Zigaretten und längst erloschenen Pfeifen. Breite Schultern beugten sich über weiße Teller, große Pranken griffen um halbvolle Gläser, die der Besitzer in einem Zug leerte, bevor er sich mit kräftigem Oberkörper umwandte und wie jemand, der sich verstohlen über die Schulter blickt, nach dem Kellner sah.

Hjalmar Nymark kam aus dem Regen herein, strich das nasse Haar zurück und schüttelte das Wasser vom Mantel. Er sah sich um. Es war kein Tisch mehr frei, aber gleich neben meinem stand ein leerer Stuhl. Er kam ruhig herüber. Als er vor mir stand, nickte er freundlich und sagte:

»Ich sehe niemanden, den ich kenne. Ist hier Platz?« »Wenn du nicht zuviel Ellenbogenfreiheit brauchst, schon.«

Ich rückte meinen Stuhl näher an den Pfeiler, an dem mein Tisch stand. Dann stand ich auf und wir gaben einander die Hand. »Veum. Varg1 Veum.«

1 Varg: neunorwegisch für Wolf

Er gab mir eine Hand, die nicht so groß und kräftig war, wie ich erwartet hatte. »Hjalmar Nymark.«
Er rückte den freien Stuhl an den Tisch heran und hängte den nassen Mantel über den Stuhlrücken, bevor er sich setzte. Als der Kellner kam, bestellte er ein halbes Pils und einen Teller Eintopf. Er fischte die zusammengerollte Zeitung aus der Manteltasche und saß dann mit ihr in der Hand da.
»Scheußliches Wetter«, sagte er.
Ich nickte und war einer Meinung.
»Aber sie sagen ja, daß die Sommer jetzt in den 80er Jahren kälter werden sollen.«
»Hört sich vielversprechend an«, sagte ich.
Er sah mich prüfend an, offen und ohne den Versuch, es zu verbergen.
»Na, und was treibst du so, Veum? Oder warte mal – laß mich erstmal versuchen. Ich war früher mal ganz gut darin.«
»Worin?«
»Leute einzuordnen.«
»Such mir einen Platz ganz hinten auf dem untersten Bord, da gehöre ich hin.«
»Unter den Extrapreisen?« schmunzelte er.
»Ich weiß nicht, ob ich es als Preis bezeichnen würde«, antwortete ich, lächelte schief und fuhr mir durchs Haar. Das Grau darin war noch nicht mehr als ein Schimmer, aber wenn die Sommer der 80er Jahre vorbei waren, würde der Schnee sicher nie wieder daraus verschwinden.
Er maß mich vom blonden Haar über das frühlingsbleiche Janusgesicht, das am Hals offene, blaue Jeanshemd, die etwas verschlissene Jacke, den blauen Pullover mit V-Ausschnitt darunter bis zur braunen Cordhose. Er warf einen Blick auf den Mantel, der über dem Stuhlrücken hing. Seine Stimme war dunkel und wohlwollend, als er sagte: »Deiner Kleidung nach zu urteilen, würde ich dich irgendwo unter den niederen Angestellten der Universität einordnen. Universitätslektor oder sowas. Oder vielleicht irgendwas in einer Bibliothek.«
»Mit anderen Worten, ein leicht verstaubter Eindruck?«
»Nicht gerade verstaubt. Aber jedenfalls nicht sonderlich wohlhabend. Auch nicht modebewußt, aber das kommt wahrscheinlich daher, daß du es dir nicht leisten kannst. Trotzdem … Irgendetwas paßt nicht. Du hast auch was von einem selbständigen Unternehmer an dir. Erfolglos, natürlich.«
»Natürlich.«
»Aber dein grüner Hut verwirrt mich etwas. Der gibt dir was von einem Freiluftmenschen, als wärst du Ingenieur oder so.«
Unser Essen kam und ich war froh, daß eine kleine Pause entstand. Ich konnte sie brauchen, um die Eindrücke zu verdauen.
Hjalmar Nymark zerbrach das Flatbrød zwischen den Fingern, als wären es Oblaten, nur stippte er die Stücke in den Eintopf und teilte nicht an andere als sich selbst aus. Zwischen den Bissen setzte er seinen Monolog fort. »Ich sehe dich vor mir in einem kleinen Büro, sagen wir bei einer kleinen Engrosfirma in der Eisenwarenbranche. Eine Sekretärin kannst du dir kaum leisten, und ich glaube auch nicht, daß du besonders viel zu tun hast. Aber …«
Ich entschied, daß ich genug gehört hatte und sagte abrupt: »Ich bin Detektiv, Privatdetektiv.«
Einen Augenblick blieb er mit offenem Mund über seinem Teller sitzen. Dann schluckte er herunter, was er im Mund hatte, griff nach der Zeitung, die zusammengerollt neben ihm lag, schlug damit leicht an die Tischkante und sagte: »Teufel nochmal!«
»Das kannst du wohl sagen. Er hat das Büro nebenan, aber nicht mal der bequemt sich, ab und zu reinzuschauen!«
Er machte eine ausladende Handbewegung. »Na gut, aber dann solltest ja wohl du an diesem Tisch der Experte sein! Laß hören, was bin ich für einer?«
Ich warf einen raschen Blick auf ihn: weißes Hemd mit breitem Schlips, leicht fleckig; brauner Anzug im Schnitt der frühen 60er Jahre, nikotinverfärbte Finger und abgekaute Nägel. »Rentner!« sagte ich.
»Na gut. Aber davor?«
Ich zeigte mit der Gabel auf ihn. »Nach deiner Beobachtungsfähigkeit zu urteilen, warst du – Polizist.«
»Korrekt.«
»Na, dann sind wir ja wohl beide sowas wie Experten.«
»Ja, in gewisser Weise sind wir tatsächlich Kollegen.«
»Nur daß ich ziemlich heruntergekommen bin und du längst pensioniert.«
Eine zeitlang aßen wir stumm weiter. Dann sagte ich: »Wie lange bist du schon Rentner?«
»10 Jahre. Ich bin 1971 ausgeschieden.«
»Und wie vertreibst du dir die Zeit?«
In seinen Augen blitzte es und er sah mich mit einem unergründlichen Zug um den Mund an. »Schnüffle ein bißchen herum. Seh mir ein paar alte Fälle an. Ungeklärte!«
»Warst du in der Kriminalabteilung?«
»Mhm!« Er nickte und wir aßen weiter.
Mehr erzählte er an diesem Tag nicht, aber danach kam es oft vor, daß wir zusammen Mittag aßen oder ein Glas Bier tranken.

3

Ich führte zu der Zeit ein regelmäßiges Leben. Fünf Tage in der Woche war ich im Büro. Ich machte ein paar Jobs für eine Versicherungsgesellschaft. Das brachte mir genug Geld ein, um den Kopf über Wasser zu halten, jedenfalls solange Ebbe war. Drei-viermal in der Woche machte ich einen Abstecher ins Lokal und saß dann meistens lange und redete mit Hjalmar Nymark. An den anderen Abenden der Woche joggte ich: die ewig gleichen, langen Touren über Schotter und Asphalt, bei Sonne, Regen und Schneematsch. Die Biere, die ich in der Kneipe trank, zogen meistens noch ein paar Schnäpse aus der Aquavitflasche, die ich zuhause stehen hatte, nach sich, aber die harten Lauftouren schafften den Ausgleich: wenn ich schon verkam, dann jedenfalls langsam. An jedem zweiten Wochenende hatte ich Besuch von Thomas, der zehn Jahre alt geworden war, mich mit gebildeten, ernsten Augen ansah und mir von Fußballspielen erzählte, die ich nicht gesehen hatte und von Büchern, die ich nicht gelesen hatte. Die Ehe mit Beate wurde allmählich zu einer ähnlich entfernten Erinnerung wie die Orte, an denen ich die Sommer meiner Kindheit verbracht hatte. Das größte Ereignis in diesem halben Jahr, bevor ich Hjalmar Nymark traf, war, daß der Zahnarzt, der seine Praxis neben mir hatte, eine neue Assistentin bekam. Nach ein paar Wochen lächelte sie mich an, wenn wir einander auf dem Gang begegneten.

Der Sommer fand Anfang Mai statt. Die plötzliche Wärme legte die Stadt lahm und die Leute liefen mit glühend-roten Gesichtern herum und sehnten sich nach der Kälte zurück. Ihr Wunsch wurde erfüllt. Um den 17. Mai herum war der Sommer vorbei und das graue Wetter wieder da. Nach ein paar Tagen war es, als hätte die Sonne nie geschienen, und als würde sie es auch nie wieder tun.

An einem dieser Tage, an denen der Himmel wie eine graue, nasse Wolldecke über der Stadt lag, rief ein Mann an, der seinen Namen nicht nennen wollte.

»Nehmen Sie jede Art von Auftrag an, Veum?« fragte er. »Nicht jeden«, antwortete ich.
»Was für Aufträge nehmen Sie denn nicht an?«
Ich fühlte mich müde und sagte: »Erzählen Sie mir lieber, was

ich für Sie tun soll.«
»Ich glaube – ich habe das Gefühl … Meine Frau betrügt
mich.«
Ich antwortete nicht. Auf der anderen Seite von Vågen2 lag
das alte Segelschiff Statsråd Lemkuhl und wimmelte von
Touristen. Es erinnerte mich an einen ausgestopften Schwan,
voller Ungeziefer.
»Ich brauchte … Ich wäre gern sicher«, fuhr die Stimme am
Telefon fort.
»Wessen?«
»Daß sie mich betrügt. Meine Frau!«
»Genau solche Aufträge nehme ich nicht an.«
Es wurde einen Augenblick still. Und dann kam, heftig:
»Warum haben Sie das denn verdammt nochmal nicht gleich
gesagt?« Er besann sich und fragte etwas ruhiger: »Ist das ein
Prinzip – oder ist es ernst gemeint?«
Ich mußte lachen. »Sagen wir, es ist beides, dann liegen wir
richtig.«
»Dann rufe ich eben das andere Büro an!« schnauzte er.
»Tun Sie das. Die werden sicher nicht von sowas geplagt sein.« »Von was?«
»Prinzipien.«
»Hoho!« beendete er das Gespräch und knallte den Hörer auf. Ich saß da und starrte meinen an. Erst als ich ihn wieder auflegte, wurde mir schlagartig klar, daß das eine Drohung war, die
ich noch nie gehört hatte.
An diesem Tag schloß ich das Büro schon früh und ging direkt
ins Lokal. Hjalmar Nymark saß schon da, und als ich zur Tür
hereinkam, winkte er mich zu sich an den Tisch. Er saß allein.
die drei-vier Wochen, die wir einander gekannt hatten, waren
schnell vergangen, aber es war, als wären wir schon seit vielen
Jahren Freunde. Wir hatten einander viel zu erzählen. Ohne
direkt vertraulich zu werden, war es uns leicht gefallen, miteinander zu reden.
Das Gespräch hatte sich oft um alte Kriminalfälle gedreht,
geklärte und ungeklärte, aber das meiste, worüber zwei Männer
mit einem Altersunterschied von dreißig Jahren reden können,
hatten wir zumindest gestreift.
Manchmal wurde er besonders ernst. Einmal fragte er: »Wann
bist du eigentlich geboren, Veum?«
»1942«, antwortete ich.
»Dann erinnerst du nicht viel vom Krieg?«
»Nicht viel.«
Danach sah er lange düster vor sich hin, ohne noch etwas zu
sagen.
Ein anderes Mal sagte er: »Hör mal, Veum. Der Name Pfau,
sagt der dir was?«
Ich schüttelte langsam den Kopf.
Er fuhr fort: »Pfau Farben AG. Die Fabrik lag im
Fjøsangervei. Es gab dort ein häßliches Explosionsunglück,
1953. Die ganze Fabrik brannte nieder und viele wurden
getötet.«
»Ein Unglück?«
Er nickte bedächtig. »So hieß es. Ich war bei den Nachfor
schungen dabei. Ein schwieriger Fall.«
Etwas später am selben Abend sagte er plötzlich: »Einige Fälle
beschäftigen dich ganz besonders. Sie brennen sich ein, und du
schaffst es nicht, sie zu verdrängen. Sie lassen dich nie wieder
los.« Er schlug mit seiner Zeitung an die Tischkante. »Nie.« Irgendwie verstand ich, daß diese Dinge zusammengehörten.
Es war, als wolle er mir ein Puzzlespiel zeigen, von dem er
selbst nicht einmal alle Teile besaß.
Meistens, wenn wir miteinander redeten, hatte er ein Funkeln
in den Augen, einen humorvollen Tonfall, der mir sagte:
»Natürlich sind es tragische Dinge, die wir hier besprechen, aber
zum Teufel nochmal, Veum, das ist Geschichte – Geschichte!«
Wenn aber der Funke in seinen Augen erlosch und er ganz ernst
wurde, begriff ich, daß es um etwas anderes ging. Um etwas, das
noch nicht Geschichte geworden war, das heute noch lebte –
jedenfalls für ihn. Es war, als versuche er, mir etwas zu erzählen, ohne den Sprung ganz zu wagen.
»›Giftratte‹ – sagt dir das was, Veum?«
Ich schüttelte den Kopf. »›Giftratte‹?«
»Sie nannten ihn so. Während des Krieges.«
»Hör mal … Hat das hier was mit Pfau zu tun?«
Da sah er mich mit dunklen, unergründlichen Augen an, ohne
zu antworten. Nach einer Weile begann er, von etwas anderem
zu sprechen.
An jenem Tag im Mai wirkte er rastlos. Er trank schneller als
gewöhnlich und ich konnte mir nicht leisten, mitzuhalten. Er
sprach nervös von Brand3, und obwohl es in diesem Jahr in dem
Zusammenhang allen Grund zur Nervosität gab, war doch etwas
Auffälliges daran.

2 Vågen: innerer Hafen von Bergen
3 Brand: Fußballclub in Bergen

»Ohh, ich fühle mich alt, Veum!« stieß er hervor.
»Naja, wir haben wohl alle mal Tage, an denen wir …« »Ich schaffe nicht genug. Hab nicht mehr viele Tage vor mir.« »Du hast noch reichlich Tage vor dir. Du bist gesund und stark

und …«
»Aber die Jahre vergehen, Veum – und der Wolf jagt.« »Der Wolf?«
»Die Zeit, Veum. Die Zeit schleicht durch die Straßen und

fletscht die Zähne nach dir. Eines Tages schnappt sie zu, und eines Tages springt sie dir an die Kehle. Und dann bist du fertig. Von der Tagesordnung gestrichen.«

Ich sagte vorsichtig: »Aber vielleicht kann man auf neue Tagesordnungen gesetzt werden?«
Er legte die Zeitung weg und schlug beide Handflächen so schwer auf den Tisch, daß das Bierglas zwischen ihnen hüpfte. »Daran glaube ich einfach nicht!« sagte er düster.
Ich sah mich um. Der Nieselregen draußen machte den Raum dunkel und herbstlich. Die Beleuchtung war nie besonders schmeichelhaft gewesen, und die Gesichter um uns herum klafften wie offene Wunden. Augen mit den Flecken verwundeter Einsamkeit, frustrierten Übermuts; Münder, die nach Gläsern geiferten, kauten sinnlose Worte hervor, während die Zeit verging, unerbittlich und gnadenlos. Plötzlich fiel mir auf, daß es ein treffendes, poetisches Bild war, das er mir da gezeichnet hatte. Und ich sah ihn vor mir: einen zottigen Wolf, mit scharfen Reißzähnen, ein einsamer Jäger, todbringend und unüberwindbar. Der Fenriswolf, ewig auf Jagd. Er gehörte hierher, in die Straßen, die uns draußen erwarteten. In den Wäldern und Hochebenen hatten sie den Wolf ausgerottet. Aber in der Stadt jagt er, durch die asphaltgedeckten Straßen der Städte jagt er, über glänzenden Pflasterstein und die gähnenden Rinnsteine entlang jagt er – der Wolf, die Zeit. Vielleicht war es ratsam, drinnen zu bleiben.
Ich sah Hjalmar Nymark an. Das markante Gesicht war verschlossen, unzugänglich. Die dunklen Augen weit, weit weg. Er saß aufrecht am Tisch, den Kopf leicht nach hinten geneigt und den Blick an etwas direkt über meinem Kopf geheftet – und unendlich weit weg. Die eine Hand krümmte sich um die zusammengerollte Zeitung, die andere lag am Fuß des Bierglases, wie eine gefällte Beute.
»Erzähl mir lieber«, sagte ich, »erzähl mir lieber von Pfau.«
Ganz plötzlich war er wieder da. »Warum?« fragte er mißtrauisch. Ich zuckte mit den Schultern und machte eine unbestimmte Handbewegung. »Es hört sich – interessant an.«
Er sah mich verbissen an. Dann entspannte sich sein Gesicht, nicht in einem Lächeln, sondern als würde es sich plötzlich öffnen. Er sagte:
»Entschuldige! Ich bin heute nicht richtig in Form.« Er sah sich um. »Dieser Laden geht mir auf die Nerven. Laß uns zu mir nach Hause gehen. Ich hab da eine Flasche stehen, und dann erzähl ich dir …«
Wir tranken aus, standen auf und gingen. Draußen trieb der Regen wie Spinnengewebe vom Meer herein: lange, klebrige Fäden, die sich ins Haar, auf Haut und Kleider hefteten und dich traurig und schwer machten. Oben am Fjellhang bogen sich die Bäume, grün und schwanger und in den Gärten zum Fjellvei hinauf hatten die ersten, bleichen Fliederblüten sich wie schlummernde, blauweiße Fledermäuse festgekrallt. Aber der schwere, sättigende Duft der Blumen erreichte nicht uns, die wir da im Regen standen auf einem verwehten Stück Gehsteig, am Rand eines verlassenen Kais. Ich konnte nicht anders, ich mußte mich umsehen – nach dem Wolf. Sehen konnte ich ihn nirgends, aber strich ich mir mit der Hand über das Gesicht, konnte ich fühlen, wo seine Krallen mich getroffen hatten.
Das war das erste Mal, daß Hjalmar Nymark und ich das Lokal gleichzeitig verließen.

4

Hjalmar Nymark wohnte im dritten Stock eines alten Bergenser Stadthauses im unteren Teil der Skottegate. Die Wohnung bestand aus zwei kleinen Räumen, Küche und einem engen Klo mit Eingang vom Treppenhaus. Von der Küche führte eine schmale Tür zu einer Feuertreppe, und durch die grauweißen Gardinen konntest du über die Häuser unten in der Nøstegate hinweg auf den Puddefjord sehen, wo die Askøy-Fähre treu und unermüdlich durch das Regenwetter davonstampfte. Wir holten uns jeder draußen in der Küche ein Glas, bevor wir ins Wohnzimmer gingen, wo Hjalmar Nymark eine ungeöffnete Flasche Eau de Vie aus einem abgestoßenen, braunlackierten Büffet hervorholte. Hier wiesen die Fenster von der Sonne weg, hinauf zum Kloster.

Hjalmar Nymark schenkte die Gläser voll bis zum Rand, ohne Wasser zum Verdünnen anzubieten. »Skål!« sagte er.
»Skål!« sagte ich. Der Traubenschnaps zerrte im Hals und lief langsam durch den Körper hinab, bis er sich irgendwo unten im Magen wie eine braunrote Hitzeblüte entfaltete.
Hjalmar Nymark saß in einem tiefen, braunen Sessel mit hellen Armlehnen aus lackiertem Holz. Ich saß in einem graugrünen, rundherum gestopften Stuhl. An der einen Wand stand neben dem Büffet ein hölzerner Sprossenstuhl und zwischen uns ein kleiner Tisch mit einem abgenutzten Läufer in der Mitte, Auf dem Büffet standen ein paar Familienportraits, alt und vergilbt, und daneben lagen auf einem Haufen eine Handvoll zerlesener, eselsohriger Schundromane. Neben dem schwarzen Kachelofen ein Stapel Zeitungen und eine leere Brennholzkiste. Eine hellgrüne Tür führte in das hintere Zimmer. Neben der Tür stand ein Fernsehapparat und auf dem Boden ein schwarzes Kofferradio.
»Du siehst dich um?« sagte Hjalmar Nymark.
»Alte Gewohnheit.« sagte ich und lächelte schief. Er nickte.
»Das kenn ich. Solche Wohnungen erzählen oft mehr über ihre Bewohner, als denen lieb ist. Ein guter Kriminalbeamter nimmt immer eine Tatortbesichtigung vor, nicht nur, um eventuelle Indizien zu finden, sondern auch um sich ein Bild zu machen von – den Betreffenden.«
Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und sagte: »Wie du siehst, bin ich Junggeselle. Hier gibt es keine Blumen, keine Körbe mit Wollknäulen, keine Schalen mit Obst drin, keine Bilder der Enkelkinder an der Wand. Die dort drüben sind meine Eltern, längst verstorben. Das hier ist kein Zuhause, sondern ein Ort, an dem ich übernachte. Schutz suche vor Regen. Und einen trinke. Skål nochmal, Veum.«
Ich hob mein Glas und nahm einen ordentlichen Schluck.
Er zögerte etwas. »Warst du jemals verheiratet?«
Ich nickte still.
»Hast du Kinder?«
»Eins. Einen Jungen.«
»Vielleicht ist das die größte Entbehrung.« Er hatte kein Licht gemacht und im Halbdunkel war sein Gesicht dunkler, fast südländisch im Kontrast zu dem grauweißen Haar. Wenn du es gerade von vorn sahst, wirkte es viereckig, wegen der markanten, soliden Kiefer und der breiten Stirnpartie. Die Haut spannte sich über seinen massiven Gesichtsstrukturen und er beugte sich mit schwarzen Augen zu mir vor.
Dann richtete er sich wieder auf und sagte mit nüchterner Stimme:
»Ab und zu, wenn ich im Nordnespark spazierengehe und mich auf eine Bank setze, um mich ein wenig auszuruhen, kommt so ein kleiner Fratz zu mir herüber. Einer, der mit seiner Mutter spazierengeht. Er kommt auf kurzen Beinen angetappst und kann so eben laufen, lacht und streckt dem alten Mann, der da auf der Bank sitzt, die Arme entgegen. Ich hebe ihn hoch und setze ihn aufs Knie und er zieht mich an der Nase, lacht. Oder er will runter und hin zur Mutter, weil der alte Mann plötzlich zu nah ist. Und die Mütter lächeln, dieses stolze Lächeln, das alle Eltern kleiner Kinder haben, wenn die Kinder nicht schreien. Und sie gehen weiter. Dann begreife ich, was ich ver … wie alt ist dein Junge?«
»Zehn.«
»Du bist geschieden?«
Ich nickte wieder.
»Ab und zu habe ich lange überlegt, – was schlimmer ist. Einmal glücklich verheiratet gewesen zu sein, um dann geschieden zu werden, oder das ganze Leben allein gelebt zu haben, ohne jemals etwas wirklich mit jemandem zu teilen.«
»Das ist sicher unterschiedlich«, sagte ich. »Plötzlich wieder allein zu sein kann sowohl Schock als auch Befreiung sein. Nur, wenn das erste Erschrecken oder Freiheitsgefühl vorbei ist, dann bleibt trotzdem nichts als Einsamkeit. Aber ich glaube, ich habe irgendwie eine Form dafür gefunden, mittlerweile.«
»Aber es ist ein bitteres Leben, Veum. Wenn du siebzig geworden bist und nicht mehr so viele Jahre vor dir siehst, dann ist es bitter, das ganze Leben allein gelebt zu haben. Es ist … neunzehn Jahre her, daß ich zuletzt eine Frau hatte.« Sein Blick ging in die Ferne. »In einem kalten Hotelzimmer; eine Frau Ende vierzig in steifen Kleidern und so einem knisternden Unterrock, der von selbst auf dem Boden steht. Ich war in Haugesund mit einem Auftrag, und ich traf sie im Speisesaal, über einem Glas Bier. Später kam sie auf einen Drink mit aufs Zimmer und wir …« Er machte eine resignierte Handbewegung. Lakonisch fügte er hinzu: »Ich hätte auch andere haben können. Ich hätte mir eine Frau kaufen können, wie andere es tun. Aber …« Der Mund spannte sich zu einem harten Lächeln. »So sollte es nicht sein. Es sollte etwas sein, was man tat, weil man Wärme empfand für einen Menschen, um etwas mit ihm zu teilen.
Sonst war es ohne Wert. Und jetzt – jetzt ist es zu spät. 1962 – das ist neunzehn Jahre her, Veum. Kleine Jungs sind seitdem aufgewachsen und hatten ihre ersten Frauen.«
Ich dachte zurück. 1962, da war ich zwanzig und hatte längst meine ersten Liebeserlebnisse gehabt. Eine Karriere war gerade zuende, eine andere hatte eben erst begonnen. So zieht das Leben seine Fäden durch uns und näht seine Muster, unsichtbar, aber unerbittlich.
»Wie lange ist es her, daß du …« Er beendete die Frage nicht.
Ich nippte am Glas und lächelte schräg über die rotbraune Flüssigkeit.
»Vor einem halben Jahr ungefähr, in Stavanger.«
Er sah hinunter in sein eigenes Glas, schielte dann plötzlich zu mir hoch, und es war wieder etwas von dem alten, humorvollen Funkeln in seinen Augen. »Dann hatten wir beide unsere letzten Liebeserlebnisse in Rogaland.« Kurz darauf kam nachdenklich: »Ja, Bergen ist eine kalte Stadt.«
»Nicht kälter als andere Städte«, sagte ich. »Aber du fühlst dich oft in deiner Heimatstadt besonders einsam, weil es gerade da nicht so sein soll. In anderen Städten ist es – in gewisser Weise – natürlich, daß du allein bist. Und gleichzeitig bietet es dir neue Jagdreviere, eine plötzliche Freiheit, die du da, wo du herkommst, nicht hast.«
Hjalmar Nymark stand auf, ging zur Wand und schaltete eine Wandleuchte an. Sie füllte den Raum mit einem gelblichen, matten Schein. Draußen floß die Dämmerung in Strömen gegen die Fensterscheiben. Hier drinnen saßen zwei Männer, einer siebzig, der andere vierzig Jahre alt, mit zwei Gläsern und einer Flasche auf dem Tisch zwischen sich und sprachen von Einsamkeit.
Wir tranken eine Weile stumm. Ich sagte: »Du wolltest mir von Pfau erzählen, oder nicht?«
Er sah mich an, mit einer anderen Ferne im Blick. »Erinnerst du dich nicht einmal an ihre Inserate? Ein Pfau mit ausgebreiteten Schwanzfedern. Auf den Plakaten in allen möglichen Farben. Ein großes Exemplar war an die Nordwand gemalt, die dir entgegenleuchtete, wenn du den Fjøsangervei entlangfuhrst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich muß zu klein gewesen sein. Das einzige, was ich erinnere, ist dieser kerngesunde Typ mit dem gestreiften Pullover und einem Zahnpastalächeln, als ob er uns empfehlen wollte, unsere Zähne mit weißer Lackfarbe zu putzen.«
Er stand auf und ging in das Zimmer hinter der hellgrünen Tür. Als er zurückkam, hatte er einen länglichen, braunen, verschnürten Pappkarton bei sich. Er setzte ihn mit einem schweren Klatschen auf dem Boden ab.
»Hier – ist alles Material, das ich über Pfau gesammelt habe«, sagte er, setzte sich wieder an den Tisch, schenkte sich einen neuen Schnaps ein und goß gleich auch in mein Glas.
»Es wirkt gewichtig«, sagte ich. »Was ist das für Material?«
Er klappte ein Taschenmesser auf und durchschnitt die Schnur um den Karton, griff hinein und zog eine Handvoll Papiere hervor. Die reichte er mir. »Ein großer Teil sind Zeitungsausschnitte. Außerdem habe ich Kopien aller Verhöre und technischen Untersuchungen, die nach dem Brand gemacht worden sind.«
Oben auf dem Stapel lag ein vergilbter Zeitungsausschnitt. Die Aufmachung zeigte, daß es ein Artikel aus den frühen 50er Jahren war. Die Layout-Abteilungen der Zeitungen waren noch nicht von Marketingstrategen beherrscht, und obwohl dies unzweifelhaft ein Titelseitenartikel war, enthielt er reichlich Information. Die Schlagzeile lautete: 15 Tote bei explosivem Brand. Dann stand in kleinerer Schrift: Pfau Farben im

Fjøsangervei brannte gestern bis auf den Grund ab. Aus dem Text ging hervor, daß Leute aus der Nachbarschaft ungefähr um 14.25 Uhr eine kräftige Explosion gehört hatten. Gleich darauf entdeckte man, daß das Fabrikgebäude in Flammen stand, und als die Feuerwehr um 14.35 Uhr ankam, brannte der gesamte Komplex. Am schlimmsten betroffen war die Produktionshalle, alle fünfzehn, die bei dem Unglück getötet wurden, arbeiteten dort. Am wenigsten beschädigt war der Verwaltungstrakt. Es wurden umfassende Rettungsarbeiten durchgeführt, um eventuelle Überlebende herauszuholen, und ein dramatisches Foto zeigte Feuerwehrleute, die, zwischen Girlanden schäumenden Wassers hindurch, Verletzten aus dem brennenden Gebäude heraushalfen.

Ein Hinweis auf einen Artikel auf Seite 8 führte mich weiter zum nächsten Ausschnitt. Vor der schwarzversengten Brandstelle waren zwei Frauen abgebildet, eine junge, dunkelhaarige mit hochgestecktem Haar, eine ältere mit Hornbrille, einem Mund wie ein Eulenschnabel und einer Frisur wie ein Tausendschönchen. Der Bildtext lautete: Bürodame Elise Blom und Sekretärin Alvhilde Pedersen, die das Unglück beide unverletzt überstanden, vor dem abgebrannten Gebäude im Fjøsangervei. Das Foto begleiteten Interviews, unter anderem mit den beiden Frauen auf dem Bild, in denen sich alle darin einig waren, daß die Explosion vollkommen unerwartet und, so Fräulein Pedersen, ›wie ein Schock‹ kam. Der Fabrikbesitzer, Direktor Hagbart Hellebust, war in Oslo, als sich die Explosion ereignete, und über Telefon hatte er nichts weiter zum Ausdruck bringen können als seine tiefe Erschütterung über das Unglück und sein allergrößtes Mitgefühl für die Toten und ihre Familien. Aus dem Artikel ging auch hervor, daß viele der Angestellten in der Zeit, bevor die Feuerwehr ankam, die reinsten Heldentaten vollbracht hatten, und daß die Zahl der Toten ohne ihren Einsatz wahrscheinlich noch größer gewesen wäre. Der Feuerwehrchef erklärte, daß es zum derzeitigen Zeitpunkt unmöglich sei, etwas über die Ursache der Explosion zu sagen.

Ich blätterte weiter durch den Stapel. Mehrere Ausschnitte aus anderen Zeitungen berichteten ohne große Abweichungen von dem Geschehen. Die Kopien von den technischen Untersuchungen waren so umfassend und mit Fachausdrücken gespickt, daß es unmöglich war, bei kurzem Hinsehen einen genauen Eindruck des Inhalts zu bekommen.

Ich sah zu Hjalmar Nymark auf, der mich mit der Miene eines Menschen betrachtete, der eine einmalige Sammlung alter Fotografien vorführt. Ich fragte: »Wurde die Ursache des Brandes gefunden?«

Er nickte. »Es war ein Riß in einem der Produktionstanks. Das herausströmende Gas war höchst explosiv und es genügte schon ein Funke von der elektrischen Anlage, um eine Explosion auszulösen. Das war, fand man heraus, was geschehen war.«

»Na gut. Aber?«

Er sah mich an, als überlegte er, ob er sich mir anvertrauen könne.
Ich fuhr fort: »Ja, denn ich gehe davon aus, daß da ein, aber ist, wo du schließlich all dies Material gesammelt hast?«
Er nickte. »Es ist schon merkwürdig, Veum. Ich habe 1945 bei der Kriminalabteilung angefangen, und die Verbrechen, bei denen ich mitermittelt habe, kann ich nicht zahlen. Alles, vom alltäglichen Einbruch bis zu Mord, Vergewaltigung, Kindesmißhandlung.« Sein Gesicht war jetzt bitter. »Was für Schicksale ich gesehen habe! Ein Polizistenleben – das ist ein Leben auf der Schattenseite. Wenn man mindestens die Hälfte des Tages – Überstunden mitgerechnet – damit verbringt, im Elend der Leute herumzuwühlen, dann wird man nach und nach ziemlich abgestumpft. Frauen, die dreißig Jahre lang wirklich jeden Tag windelweich geprügelt wurden, drei-vier Monate alte Babys, die durch die Gegend geschmissen werden, widerliche Frauenzimmer, die jahrelang ihre sanftmütigen Ehemänner betrogen haben, bis der Sanftmut eines Tages plötzlich aufgebraucht ist und sie sich mit einem Messer in der Herzgegend auf dem Boden wiederfinden. Oder versoffene Penner, die aus einem Brauereiwagen eine Halbliterflasche Bier stehlen und achtzig Kilo schwere Huren, die einen gutgläubigen Strohwitwer um den Wochenlohn erleichtert haben. Das ganze Register, Veum. Vergewaltigte sechzehnjährige Mädchen, die sich durch die Nacht geheult haben und vielleicht nie mehr einen Mann mit Lust ansehen werden, ein vierzehnjähriger Autodieb, der ein Auto irgendwo in Fana an einen Telegrafenmast gesetzt hat und in dem Wrack festgeklemmt sitzt, mit einem Unterkörper, den er nie wieder wird bewegen können. All das. Aber von all den Fällen, mit denen ich gearbeitet habe, haben wenige so großen Eindruck auf mich gemacht, wie der Brand bei Pfau.«
»Aber warum?«
»Weil – weil ich weiß, daß ich der Sache nie auf den Grund gekommen bin. Und nichts irritiert einen Polizisten mehr als das, – zu fühlen, daß ein Fall ungelöst ist.«
»Aber …«
»Und weil«, unterbrach er mich, »weil das Muster des ganzen Spiels hier so deutlich war. Der arme Säufer mit der Halbliterflasche kriegte ein halbes Jahr in Jæren4. Hagbart Hellebust ging frei aus.«
»Der Fabrikbesitzer?«
»Genau.«
»Aber der war doch in Oslo, als sich die Explosion ereignete.«
»Richtig. Aber wenn jemand verantwortlich war, dann er!«
»Woher weißt du das?«
Er sah mich müde an. »Wenn ich das wüßte, dann hätte ich nicht diesen Pappkarton da im Haus und Hagbart Hellebust wäre nicht, wo er jetzt ist. Das war ja das Teuflische. Es gab keine

4 Jæren: Strafanstalt in Südwestnorwegen

Beweise.«
»Und wo ist Hagbart Hellebust jetzt?«
»Der Name sagt dir nichts?«
Ich mußte nachdenken. »Irgendwo – weit weg – klingelt es

schon, aber ich kann ihn nicht einordnen.«
»Hagbart Helle denn, vielleicht – hört sich das bekannter an?« Ich nickte. »Natürlich.«
Hjalmar Nymark schenkte eine neue Runde ein und blieb mit

der Flasche in der Hand sitzen. »Was weißt du von ihm?«

Ich zögerte etwas. »Nicht sehr viel. Daß er irgendwann Anfang der 50er Jahre ausgewandert ist, daß er sich in der Karibik oder irgendwo da unten etabliert hat und daß er eine ständig wachsende Schiffsflotte besitzt, die unter Billigflagge segelt. Einer der Reeder, die es nicht einmal für nötig hielten, auch nur einen Schimmer von Nationalgefühl zu bewahren, sondern Steuern Steuern und Wohlfahrtsstaat Wohlfahrtsstaat sein lassen. Aber ich habe ihn nicht vor Augen. Als Person, meine ich. Er ist irgendwie etwas – verschwommen.«

»Verschwommen ist genau das richtige Wort.« Hjalmar Nymark schwenkte aufgeregt die Flasche. Es schwappte darin und ich befürchtete, er würde sie an die Tischkante schlagen, wie er es sonst gewöhnlich mit der Zeitung tat.

»Es ist seit 1954 kein Foto mehr von ihm gemacht worden, und wenn er in Norwegen ist, scheut er alles, was Öffentlichkeit heißt, wie die Pest.«

»Tja, eben ein Mann, der ein friedliches Privatleben zu schätzen weiß. Ist er verheiratet?«
»Allerdings. Er ist dreiundsiebzig und mit einem Mädchen verheiratet, das noch nicht einmal vierzig ist. Eine Engländerin, soviel ich weiß. Er traf sie auf Barbados. Da wohnt er nämlich.« Ich hob mein Glas.
»Ach ja, der sonnige Süden.«
»Zum Teufel damit.« Er beugte sich über die Tischkante vor. »Ich kann Sonne nicht vertragen. Wenn es irgendwie zu vermeiden war, hab ich das Vestland nie verlassen.« Er sah aus dem Fenster. »Ein langer und regnerischer Vestlandsommer, das ist das Glück.«
»Mußt du ein glücklicher Mensch sein, Nymark. Längst nicht alle bekommen ihre Wünsche so treu erfüllt.«
Ich fühlte es hinter den Schläfen prickeln. Langsam wurde ich betrunken.
»Tja, Hagbart Helle, der hat sein Glück mit dem Pfau-Brand gemacht, Veum.«
Ich lehnte mich mit dem Glas in der Hand im Stuhl zurück.
»Laß hören. The Story of Hagbart from Norway!«
»Du kannst es gern so nennen, es ist nämlich eine von den guten alten Karrieregeschichten.« Er ließ die r-s ein wenig rollen. Der Schnaps tat auch bei ihm seine Wirkung.
»Hagbart Hellebust wurde 1908 in Bergen geboren. Der Vater kam irgendwo oben von der Küste, aus Buland, glaube ich, und arbeitete als Färber. Der Sohn begann im gleichen Fach, wechselte aber die Linie, sozusagen. Er ging in die Farbenbranche. Wie so viele erfolgreiche Betriebe, war Pfau zu Anfang im Grunde ein Einmannbetrieb, und eins muß man Hagbart Helle wirklich lassen, er beherrschte die Kunst, klein anzufangen. Zweimal. Pfau wurde recht schnell ein bekanntes Warenzeichen und der Betrieb wuchs. Was in einer Holzbude draußen in der Sjøgate angefangen hatte, wurde zu einem großen Fabrikgebäude im Fjøsangervei, und der Hagbart selbst konnte seine Dachgeschoßwohnung in der Ladegårdsgate gegen eine Villa auf Hop eintauschen. Aber das lag in der Familie. Ein paar Jahre lang hatte er einen jüngeren Bruder dabei, Yngvar, aber der machte sich in der Trikotagenbranche selbständig und führte bald ein eigenes, blühendes Geschäft. Er wohnt übrigens immer noch in Bergen.«
»Läßt er sich fotografieren?«
»Ich glaube schon. Das einzige Mal, das Hagbart Helle nach Bergen kommt, einmal im Jahr, und er bleibt auch nur einen Tag hier, ist der 1. September, da hat der Bruder Geburtstag und die Familie versammelt sich.«
»Ansonsten bleibt er in der Sonne?«
»Du sagst es. Der Brand im Fjøsangervei hätte selbstverständlich eine Katastrophe für ihn sein können, aber er wendete alles zu seinem Vorteil und bekam die gesamte Versicherungssumme ausgezahlt. Der Betrag wurde nie öffentlich bekanntgegeben, aber ich garantiere dir, daß es sich, in 1953er Kronen gerechnet, um eine solide Summe gehandelt hat.«
»Heute würde es mit anderen Worten nicht einmal die Lichtrechnung decken?«
»Naja, … Hagbart Helle kaufte sich einen Anteil an einem Schiff, und zwar einen recht großen.«
»Hier im Lande?«
»Na klar doch. Hier im Lande und in voller Übereinstimmung mit allen Vorschriften. Er wechselte nur das Pferd. Hüpfte von Fabrikbesitzer auf Schiffsreeder im Laufe von ein oder zwei Tagen. Und dann plötzlich, ein Jahr später oder sowas, tauchte er wie aus dem Nichts in der Karibik auf. Da hatte er seinen Anteil an der Reederei hier zuhause verkauft – die übrigens ein paar Jahre später in Konkurs ging – und ließ sich auf Barbados nieder, mit einem kleinen schneeweißen Schiff in der Tasche. Bulkschiffe! Darin lag das leichtverdiente Geld, damals wie heute. Und zum ersten Mal sahen die Weltmeere das später so wohlbekannte Zeichen der Reederei am Schornstein: zwei weiße H-s auf blauem Grund. Das doppelte H ist ihm seitdem gefolgt. Er verstand es, im rechten Augenblick aufzutauchen, eineinhalb Jahre vor der Suez-Krise. Daraus schlug er Kapital. Wie bei vielen anderen Reedern läßt sich seine Umsatzkurve nach den Krisen im mittleren Osten zeichnen. Die Spitzenjahre sind 1956, 1968 und 1973.«
»Und wann hat er sich das, bust’ abgeschnitten?«
»Vom Namen meinst du? Das war, als er sich im Ausland etablierte. Helle war für Ausländer wohl leichter auszusprechen als Hellebust.«
»Komisch, daß er nicht auch den Bart abgeschnitten hat, dann würde es noch leichter.«
Er wurde still. Wir saßen eine Weile stumm da. Nippten am Schnaps, hörten den Regen gegen die Scheiben schlagen. Irgendwo im Haus drehte jemand einen Fernseher leise. Unten auf der Straße fuhren in gleichmäßigen Abständen Autos vorbei, aber es war eine stille Straße und die Abstände waren groß.
Als Hjalmar Nymark die Stille brach, waren seine Augen wieder dunkel und verbittert. »Ich hab gesagt, daß kein Fall bisher so großen Eindruck auf mich gemacht hat, wie der Brand bei Pfau. Ich werde dir erzählen, warum. Ich habe zu meiner Zeit damals eine ganze Menge Leichen gesehen. Menschen, die in ihren Autos tagelang im Wasser gelegen hatten, verkohlte Leichen aus abgebrannten Häusern, alte Leute, die in ihren Betten vor sich hingegammelt hatten, solange, bis der Geruch endlich die Nachbarn erreichte. Aber der Anblick bei Pfau … Fünfzehn verkohlte Menschen, Veum. In Alpträumen erlebe ich heute noch wieder, was ich damals gesehen habe. Und ich war schließlich kein Grünschnabel. Ich war 42 Jahre alt und hatte so einiges mitgemacht, im Krieg zum Beispiel. Aber das …«
Er sah sich im Zimmer um, als überblicke er einen um vieles größeren Raum, mit düsterer Perspektive. »Die große Produktionshalle war völlig ausgebrannt. Diejenigen, die am nächsten an der vermutlichen Explosionsstelle gestanden hatten, waren in Stücke gerissen, und ihre verkohlten Reste klebten verstreut an Boden und Wänden und dem, was von der Dachkonstruktion noch übrig war. Von denen, die noch ganz waren, waren viele auf dem Weg von der Explosionsstelle weg zum Ausgang hin gewesen. Einer von ihnen war sogar aus der Halle selbst raus und bis ins Treppenhaus gekommen. Aber das Treppenhaus brannte auch und er kam nicht mehr raus. Von den achtzehn, die da drinnen arbeiteten, kamen nur drei wirklich raus. Einer von ihnen war für den Rest seines Lebens blind, alle hatten schwere Brandverletzungen.«
»Aber sie überlebten?«
»Sie überlebten, aber sie waren nicht darum zu beneiden. Zwei von ihnen sind jetzt tot, und die kläglichen Reste von dem, der noch übrig ist, findest du irgendwo unten im Hafen. Er gehört zur festen Klientel und er sieht ganz einfach gräßlich aus, Veum.«
»Wie heißt er?«
»Olai Osvold. Aber sie nennen ihn nur ›Brandstelle‹.«
Ich lächelte schief. Sie verstanden es, den Leuten Namen zu verpassen.
»Habt ihr was herausgefunden, am Brandort?«
»Wie ich vorhin gesagt habe. Die Brandursache war eine Explosion eines der Produktionstanks. Es wurde etwas entdeckt, was ein Fehler in der Konstruktion hätte gewesen sein können, und das Gas, was dann entwichen wäre, war hochgradig explosiv. Das Resultat der ganzen Untersuchung wurde an die Versicherungsgesellschaft geschickt, und dort protestierten sie nicht. Und wie du sicherlich weißt, die Leute da zahlen schließlich kein Geld aus, wenn sie eine Chance sehen, das zu umgehen. Es ging dabei ja nicht nur um die Versicherungssumme für die Fabrik. Es waren auch eine Reihe von Lebensversicherungen im Spiel.«
Ich nickte. Das wußte ich. Es kam vor, daß sie mir Honorar zahlten, und das war nie leichtverdientes Geld.
Er fuhr fort. »Auch die Staatsanwaltschaft prüfte den Bericht. Ob eine Anklage in Frage käme, wegen Fahrlässigkeit, Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften oder ähnliches. Aber aufgrund des Materials, das wir gesammelt hatten, hielt man einen solchen Schritt für unmöglich. Derjenige, der dafür verantwortlich war, daß die Vorschriften befolgt wurden, daß die ganze Maschinerie überprüft und eventuelle Leckagen augenblicklich gemeldet wurden, war der Vorarbeiter. Das war ein Mensch mit Namen Holger Karlsen, und der ist bei dem Brand selbst draufgegangen.«
»Also …«
»Also nichts. Das Verfahren wurde eingestellt und alle späteren Versuche, es wieder aufzunehmen, wurden abgewiesen.«
»Es wurde also versucht, es wieder aufzunehmen? Von wem?«
»Von mir. Paß auf … Holger Karisens Witwe suchte uns auf. Sie stand noch immer unter dem Eindruck des Schlages, den sie erlitten hatte – sie blieb allein mit einem vierjährigen Mädchen. Sie war natürlich konfus und redete unzusammenhängend, aber sie behauptete, daß ihr Mann gesagt hätte – als er an jenem Morgen zur Arbeit ging – er sei sicher, es gäbe da eine Leckage, und daß er das noch einmal mit der Leitung besprechen wollte.«
»Noch einmal?«
»Genau! Sie hatte es so verstanden, daß er es am Tag zuvor auch vorgebracht hätte, aber sie hatten nicht weiter darüber gesprochen, und sie konnte nichts Exaktes sagen. Hagbart Hellebust bestritt kategorisch, daß Karlsen bei ihm gewesen sei, und seine Aussage wurde von den anderen in der Geschäftsleitung gestützt. Niemand hatte etwas gehört.«
»Aber so eine Leckage, wäre die nicht leicht nachzuweisen gewesen?«
Er schüttelte schwerfällig den Kopf. »Nicht sofort. Ein Defekt in der Konstruktion konnte so klein sein, daß anfänglich nicht einmal von einer Leckage die Rede wäre. Aber der Riß würde sich ausweiten und – wenn man Glück hätte, würde man Gasgeruch bemerken. Es gibt auch Instrumente, mit denen man sowas messen kann, aber die Instrumente, die damals verwendet wurden, waren bei weitem nicht so fein, wie die, die wir heute haben, und es bedurfte einer höheren Gaskonzentration in der Luft, bevor sie ausschlugen. Einer so hohen Gaskonzentration, daß die Gefahr einer Explosion schon gegeben war. Holger Karlsen hatte zehnfünfzehn Jahre im Fach gearbeitet, er hätte Erfahrung genug haben sollen, um zu wissen, wovon er sprach. Aber …« Er machte eine resignierte Armbewegung. »Was Holger Karlsen dachte oder tat, werden wir nie erfahren, denn Holger Karlsen brauchten sie nicht einmal einzuäschern.«
»Aber wenn die Witwe erzählen konnte …«
»Die Witwe! Wer scherte sich einen Dreck darum, was ein verwirrtes, unter Schock stehendes Frauenzimmer faselte. Sie war doch nur drauf aus, den Nachruf ihres Mannes reinzuwaschen – wenn es sich herausstellte, daß der Brand durch ein Arbeitsversäumnis seinerseits verursacht worden war, ginge vielleicht auch ihre Lebensversicherung flöten. Sagten sie.«
»Das ging doch wohl nicht?«
»Sagten sie, sag ich doch! Ich habe später, als sie sich wieder erholt hatte, oft mit ihr gesprochen und – wie gesagt – ich habe versucht, den Fall wieder aufzunehmen, aber vergebens. Da war nämlich noch eins …«
»Aha, und zwar?«
»Der Ordnung halber sollten alle fünfzehn Leichen identifiziert werden. Zuerst mußten sie sortiert werden, nach bestem Vermögen – jedenfalls die, die in Stücke gerissen waren. Also gingen wir erst an die Zahnarbeit. Danach – wenn nötig – suchten wir nach anderen Merkmalen: Resten von Ringen, Uhren, Gürtelschnallen, solchen Sachen. Ich habe dir erzählt, daß wir einen von ihnen ganz draußen im Treppenhaus gefunden haben. Das war Holger Karlsen.«
»Aha, und?«
»Und als wir ihn obduzierten, fanden wir seine Lungen so gut wie frei von Rauchrückständen, und er hatte Spuren eines schweren Schlages am Hinterkopf.«
»Aha«, wiederholte ich mit größerem Nachdruck. »Und wie habt ihr das erklärt?«
»Damit«, sagte er säuerlich, »daß, als er auf dem Weg nach draußen war, etwas von der Dachkonstruktion zusammengebrochen war, ihn am Kopf getroffen und auf der Stelle getötet hatte. Du mußt bedenken, daß es ein explosiver Brand war, bei dem die eigentliche Brandentwicklung im Laufe von ein paar Minuten vor sich ging, vielleicht schneller – und es hätte durchaus so passiert sein können. Das einzige, was ich auffällig fand, war, daß dies ausgerechnet Holger Karlsen passiert sein sollte.«
»Einverstanden. Aber, fanden das außer dir nicht noch andere?«
Er schüttelte den Kopf.
»Warst du es, der die Untersuchungen geleitet hat?«
»Nein. Das war ein älterer Kollege. Der auch nicht mehr lebt. Mit das Schwierigste an einem solchen Fall ist, daß so viele von denen, die dabei waren, entweder tot sind oder so alt, daß sie das meiste vergessen haben. Und wir leisteten nur die Fußarbeit. Es wurde auch eine öffentliche Untersuchungskommission benannt, um das Unglück zu begutachten.«
»Warum das?«
»Weil fünfzehn Mann dabei draufgegangen waren und im gleichen Herbst Parlamentswahlen.«
Ich stellte mein Glas weg. Es war leer. Draußen war es völlig dunkel geworden. »Hast du noch mehr?«
Er sah mich düster an. »Das hier ist das Sicherste, was ich habe, sozusagen. Die Aussage der Witwe und Holger Karisens Leiche. Das andere – das ist so unsicher, wie nur was … Es stützt sich nämlich in erster Linie auf eine Vermutung, die nie bestätigt worden ist. Und wenn man etwas auf Vermutungen aufbaut, kann das, was man baut, nie etwas anderes als Vermutung sein, oder nicht?«
»Gibt es was – möchtest du, daß ich versuche, was für dich zu tun?«
Er schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein, nein. Verzeih einem alten Mann, der in Sachen herumrührt, die andere längst vergessen haben. Ich erzähle nur eine Geschichte, Veum – eine kleine Gutenachtgeschichte.«
»Na, dann erzähl mir auch von der Vermutung.«
Er sah auf die Uhr. Um die Zeiger zu erkennen, mußte er das Zifferblatt direkt vor das Gesicht halten. Mir fiel auf, daß er sehr müde aussah. Ich selbst fühlte mich auch nicht sonderlich frisch. Der wohlige Rausch war weg; jetzt lag der Schnaps wie ein saurer Klumpen irgendwo im Bauch. Er sagte: »Dann muß ich dir von ›Giftratte‹ erzählen, und vom Krieg. Und das – das ist nochmal eine lange Geschichte. Ich glaube, ich mag nicht mehr. Nicht heute abend.«
Er sah vom Pappkarton zur Schlafzimmertür. Die Flasche vor ihm war leer, und in seinem Glas nur noch eine kleine Pfütze.
»Wir treffen uns lieber morgen wieder – im Lokal, da kann ich dann ja weitererzählen.«
Ich stand auf. Es war eine große Last, die ich da hob und der Boden unter mir war moorig. »Gleiche Zeit?«
»Etwas später«, murmelte er. »Paßt dir sechs Uhr ungefähr?«
Ich nickte.
Er kam um den Tisch herum und reichte mir die Hand zu einem festen Händedruck. »Jedenfalls, danke, daß du mir zugehört hast. Denk nicht weiter dran. Es ist nur … Blödsinn. Ich bin nur … alter … Mann.«
Die Worte kamen zäher und zäher und er ging schwerfällig, als er mich zur Tür brachte.
Ich stieg durch einen dunklen Schacht im Haus hinunter, durch quietschende Türen nach draußen und bekam Regen ins Gesicht: nassen, schwarzen Regen. Von der anderen Seite der Straße starrte mir ein dunkles Schaufenster entgegen. Wie ein leeres Auge in einem greisen Gesicht. Ich schlug den Mantelkragen im Nacken weit hoch, duckte den Kopf gegen den Regen und begann zu gehen.

5

Am nächsten Tag schmeckte mein Kaffee bitter wie alter Südwester. Draußen vor meinen Bürofenstern gab es zwischen den kräftigen Regengüssen kleine Sonnenaugenblicke. In meinem Kopf war beständig graues Wetter.

Hjalmar Nymark kam wie abgemacht gegen sechs Uhr ins Lokal. Er kam rasch durch die Tür herein und sah sich um, als hätte er jemanden auf den Fersen. Noch an der Tür blieb er stehen und sah prüfend von Gesicht zu Gesicht, bevor er zu mir herüberkam. Er grüßte schroff und plötzlich hatte er etwas Geducktes, Rastloses an sich, das da vorher nicht gewesen war. Er blickte die ganze Zeit verstohlen um sich und sah jeden Menschen, der zur Tür hereinkam mit scharfen Augen prüfend an. Die zusammengerollte Zeitung rotierte nervös in seiner einen Hand und er brauchte fünf Minuten, um den ersten Halben zu leeren.

Als er einen neuen bestellte, fragte ich vorsichtig: »1st irgendwas los?«
Er schielte auf mich und biß sich in die Unterlippe. »Haben wir gestern eine ganze Flasche Schnaps leer gemacht?«
Ich nickte. »Ich denke schon.«
»Ja«, kam es schwer. Er sah hinunter in sein Bierglas. Als er sein Gesicht wieder hob, sah er gedankenverloren über meine rechte Schulter. »Es ist vielleicht besser … Vielleicht wäre es besser, schlafende Wölfe in Frieden zu lassen.«
»Was meinst du?«
Er sah mich düster an. »Es ist nicht sicher, ob es sich lohnt, achtundzwanzig Jahre alte Leichen wieder auszugraben. Oder noch ältere. Man wird in meinem Alter schnell müde. Ich habe zuviel gesehen. Viel zuviel Elend und viel zuwenig Glück. Es gibt sicher Grenzen für das, was ein einzelner Mensch aufnehmen kann, glaubst du nicht?«
Ich ließ den Finger an der beschlagenen Außenseite meines Glases entlanggleiten. Er hinterließ eine Spur vom Rand bis zum Fuß. Ich sagte:
»Du erwähntest gestern, daß du mir von ›Giftratte‹ erzählen wolltest.«
Er sah sich wieder um. Nicht weit von uns hörten wir Bruchstücke einer Unterhaltung. Ein lautstarker Kerl mit zwei Tage altem Bart erzählte einem mageren Mann von einem Gespräch, das er in einem Zug belauscht hatte. »… sie ’ne hübsche Französin und er so’n Ornithologe oder so, jedenfalls säuselt er rum und will ihr seine ganzen Viecher beschreiben und da sagt sie, weißt ja, mit so’m süßen Akzent und so, sie sagt also: Ach, wie schön, isch liebe Vögeln!« Der Mann, der die Geschichte erzählt hatte, bekam einen Lachkrampf und schlug die Fäuste auf den Tisch, daß die Gläser nur so hüpften. Sein Kumpel sah aus, als sei ihm eher nach Weinen zumute. Hjalmar Nymark wandte mir wieder den Blick zu. »Interessiert dich das wirklich?«
»Absolut.« antwortete ich.
»Gut, gut.« Er setzte sich zurecht, als nähme er auf einem Rednerstuhl Platz. Aber die Versammlung, zu der er sprach, war nicht groß, denn er sprach mit gedämpfter Stimme, so leise, daß kaum ein Wort den Nachbartisch erreichte.
»Wie alt warst du eigentlich, als der Krieg aufhörte, Veum?«
»Zwei-drei. Ich erinnere so gut wie gar nichts.«
»Und was machte dein Vater während des Krieges?«
»Der? Er gehörte wohl zur großen Mehrheit. Zu denen, die überhaupt nichts taten. Er verkaufte Fahrkarten in der Straßenbahn, genau wie vorher. Und nachher. In der Freizeit las er über altnordische Mythologie, aber er stand wohl doch weit von Nasjonal Samling5. Von Natur aus war er ziemlich sicher Sozialdemokrat. Aber er starb schon, als ich vierzehn war, deshalb …«
»Naja. Ich will mich nicht lange dabei aufhalten, zu … ich will auch nicht versuchen, meinen eigenen Einsatz zu verherrlichen. Aber ich war – unter den Aktiven. Du weißt, es gab eine Menge Diskussionen darüber, wer eigentlich die Widerstandsarbeit begonnen hat, aber hier im Vestland waren es jedenfalls die Arbeiterpartei und die Kommunisten, mit Peder Furubotn an der Spitze. Aber als Furubotn ein Hauptquartier in Valdres einrichtete, blieb ich in Bergen zurück und verlor damit zum großen Teil den Kontakt zu dieser Gruppierung. In der Zwischenzeit hatte sich die Hjemmefront6 organisiert, und viele andere Gruppen auch und ich habe nicht wenige dramatische Ereignisse miterlebt. Einmal, im Evanger-Gebiet …«
Er unterbrach sich selbst. »Langweile ich dich?«
»Nein, nein – ganz und gar nicht. Mach weiter.«
»Also. Leiter der Gruppe, zu der ich gehörte, von 1942 bis 1945, war Konrad Fanebust, der später Bürgermeister von Bergen wurde. Er ist wohl einer der größten Kriegshelden, die wir hier im Distrikt haben, und er leistete unermessliche Arbeit. Aber damals, bei Evanger, gerieten wir in ein Gefecht mit einer deutschen Skipatrouille. Das waren Fanebust, ich selbst, einer, der Jacob Olsen hieß und zwei Jungs aus Voss. Der Jacob wurde auf der Stelle getötet und der Fanebust kriegte eine Salve in die Schulter. Dann ging er aus der Loipe, fiel und brach sich das Bein. Wir schossen zurück, während einer der Jungs aus Voss dem Fanebust provisorisch das Bein schiente und ihn auf einen Schlitten verfrachtete. Dann machten wir uns auf den Weg. Es war teuflisches Wetter, obwohl es später Frühling war und der Fluß in Begriff, über die Ufer zu treten. Trotzdem schafften wir es, zur nächsten Anhöhe rüber und weiter nach oben ins Fjell zu kommen. Oben in Hamlagrø hatten wir eine unserer Hütten, und da bekamen Fanebusts Bein und Schußwunde eine ordentliche Behandlung. Er konnte froh sein, überlebt zu haben, aber er war sein Gewicht in Gold wert. Die ersten vier Monate, nachdem wir ihn nach Bergen zurückgeschafft hatten, leitete er die Aktivitäten vom Bett aus, obwohl der Beinbruch wirklich kompliziert war und er sich nie wieder ganz davon erholte. Ich war so eine Art Sicherheitschef in der Gruppe. Hatte nachrichtendienstliche Aufgaben. Ich hatte ja Erfahrung aus der Polizeiarbeit von vor dem Krieg, aber in den Kriegsjahren arbeitete ich – außerhalb. Während dieser Ermittlungsarbeiten kam ich ›Giftratte‹ auf die Spur.«
»Wer oder was war ›Giftratte‹?«
Er war weit, weit weg. Die Zeitung lag schlapp in seiner Hand. Er trank nicht vom Bier. »Stell dir Bergen vor, während des Krieges. Eine verdunkelte Stadt. Ab und zu hörtest du eine Explosion, oder ein deutsches Auto, das durch die Straßen raste. Oder das Geräusch des Stiefelgetrampels ihrer Patrouillen. Plötzlich begann der Fliegeralarm zu heulen und dann galt es, zum nächsten Luftschutzkeller loszulaufen in dem, was du dir an Kleidern überwerfen konntest. Frauen und Kinder, Alte und Kranke. Die Bomben begannen zu fallen. Erst hörtest du das charakteristische Pfeifen. Dann wurde es ganz still. Totenstill. Und dann kam die Explosion: Die Erde konnte unter dir beben oder es war so weit weg, daß du gerade soeben das Geräusch hörtest. Trotzdem war es nicht weniger furchterregend. Wenn der Fliegerangriff vorbei war und die Entwarnung kam, ging es wieder nach Hause. Unten am Kai war dann vielleicht ein riesiger Lichtschein: ein Schiff, das in Flammen stand, Häuser auf Nordnes, die abbrannten, verzweifelte Menschen, die herauszuholen versuchten, was sie an Besitz hatten, Weinen und Schimpfworte, Flüche auf Deutsch und Norwegisch, Schreie von Sterbenden oder Verwundeten …«
Sein Gesichtsausdruck war jetzt bitter; die Nervosität war der Verbitterung gewichen, die er bei diesen vierzig Jahre alten Erinnerungen immer noch empfand. »Aber meistens lagen die Straßen dunkel, die Häuser verschlossen, hinter heruntergelassenen Rollos. Dort trafen wir uns, machten neue Pläne, druckten illegale Zeitungen und Flugblätter, saßen vor provisorischen Radioapparaten und hörten London. Und durch diese Straßen kam leise ein Wagen gerollt, stoppte an einer Bordsteinkante, beladen mit Männern in dunklen Mänteln und mit bleichen, schmalen Gesichtern. Dann ein Zeichen und der Wagen leerte sich. Die Männer in den langen Mänteln liefen schnell zu einem Haus, mit Pistolen in den Fäusten, stapften eine Treppe hoch, bezogen vor einer Tür Stellung, ein schnelles Kommando wurde erteilt und die Tür aufgetreten, ein Ausruf, jemand war dabei, die Sachen zusammenzustapeln, irgendjemand griff nach einer Schußwaffe, es wurde geschossen, aber es war schnell vorbei. Ein Norweger lag tot oder verletzt auf dem Boden, die anderen wurden an die Wand gestellt und waren bald auf dem Weg zum Arrest. Gestapo.«
Er spuckte das Wort fast aus. »Gestapo. Kannst du dir ein häßlicheres Wort denken? Zischend – wie die Schlangenbrut, die sie waren, Satans schwarzes Schleimgetier … Sie ähnelten nicht einmal gewöhnlichen Deutschen, sondern waren klein und verschrumpelt, wie Miniaturteufel. Sogar heute noch packt mich die Angst, wenn ich nur an sie denke. Nicht eine Stunde schliefen wir ruhig, Veum – und am schlechtesten gegen Morgen. Denn dann kamen sie, in der Stunde der Morgendämmerung. Die Stunde der Wölfe, weißt du, wann das ist?«
Ich nickte.
»Die letzte Stunde vor Tagesanbruch. Die Stunde, in der die meisten Menschen sterben. Da kamen sie, als seien sie die Gesandten des Todes. Gestapo.«
Er hielt einen Augenblick inne, nahm einen Schluck aus seinem Glas, stellte es hart ab. »Und das Schlimmste war: der Feind war mitten unter uns. Die Gestapo hatte ihre Helfer, und das Allerabscheulichste, was in diesen Jahren geschah, war, daß Norweger Norweger verrieten, es waren Norweger, die mit dem Finger auf Norweger zeigten und sagten, daß er und sie und da und dort! Ohne die Denunzierungen wäre die Gestapo nie so effektiv gewesen, wie sie war.«
Er sah verbittert vor sich hin. »In Bergens dunklen Straßen lebte eine besondere Gattung Kloakentiere, schlimmer als die räudigsten Ratten. Das waren all die Lichtscheuen, die in dem Krieg ihren Gewinn sahen, die durch ihn Geld machten – oder die Situation zu ihrem eigenen Besten ausnutzten. Mörder und Leichenfledderer und Profiteure. Und eines der allergrößten Schweine war der, der im Volksmund unter dem Namen ›Giftratte‹ lief.«
»Wer war das?«
»›Giftratte‹, das war ein Schatten, ein Gespenst. Du kamst nie an ihn heran, und es gehört zu den Tragödien der Nachkriegszeit, daß nie jemals völlig geklärt wurde, wer ›Giftratte‹ eigentlich war.«
»Soll das heißen, daß …?«
»Wenn ich an ›Giftratte‹ denke, sehe ich eine Phantasiefigur vor mir, ungefähr so, wie vor dem Krieg die Schurken auf der Titelseite von Detektivmagasinet gezeichnet wurden: Hut bis über die Augen, Mantel mit hochgeschlagenem Kragen und ein verdeckter Blick aus einem Gesicht mit fast dämonischen Zügen.«
Er schluckte und fuhr fort: »Es gibt niemanden, der ganz sicher weiß, wann er seine Tätigkeit begann, aber das erste Mal, das ich etwas fand, was eine Spur von ihm hätte sein können, war in Verbindung mit ein paar schweren Denunziationsfallen, ungefähr im Herbst 1942. Aber seine große Zeit hatte er von 1943 bis 45.«
»Spuren?«
»Es lief genauso wie bei gewöhnlichen Ermittlungsarbeiten, nur daß es illegal passieren mußte und deshalb sowohl weniger effektiv als auch schwieriger durchzuführen war. Das meiste kam durch Gespräche mit Zeugen oder Leuten, die in der Nähe gewesen waren, heraus. ›Giftratte‹ begnügte sich nämlich nicht nur mit Denunziationen. Er brachte selbst Leute um, und er war ein äußerst gefährlicher Mörder. Ein Naturtalent. Er hinterließ nämlich nie Beweise. Aber einige der Zeugenaussagen … ›Giftratte‹ zu schnappen bekam höchste Priorität, aber wir schafften es nicht, weder damals, noch später. Und wir setzten absolut alles dafür ein. Denunzianten aufzuspüren war wichtig – um sie eventuell eliminieren zu können.«
»Eliminieren?«
»Genau. Du mußt bedenken, daß Krieg war, Veum. Das war keine Jungenspielerei, was wir da trieben; aber ich setzte, was ich nur konnte dafür ein, daß wir sichere Beweise hatten, bevor wir diesen Schritt unternahmen.«
»Aber welche Spuren meintest du denn?«
»Es wurde ziemlich früh klar, daß der Mann, der ›Giftratte‹ war, ein auffälliges Merkmal hatte. Er hinkte, wahrscheinlich auf dem linken Bein. Und er suchte oft Zuflucht in den Gegenden südöstlich von Bergen, sagen wir der Umgebung von OsUlven. Aber viel mehr gab es nicht. Das mit dem Hinken war wichtig. Schon 1942 hatten Leute es bemerkt, und bei fast allen späteren Fällen hatte jemand eine hinkende Person gesehen, soweit überhaupt irgendetwas bemerkt worden war. Er operierte oft, als sei er unsichtbar.«
»Was?«
»Ja. Seine Methode war nämlich: der Unfall. Von all den Menschen, die ›Giftratte‹ unserem Verdacht nach auf dem Gewissen hatte, starben neun von zehn, was man einen natürlichen Tod nennen kann – wenn man Überfahrenwerden, Treppenherunterfallen und sich das Genick brechen, Ertrinken und so weiter, natürlich zu nennen ist. Aber mit der Zeit häuften sich diese Todesfälle, sodaß es auffällig wurde. Im Laufe des Jahres 1943 kamen acht Personen auf diese Weise ums Leben, die alle an zentralen Stellen in der Widerstandsbewegung arbeiteten. Und einer wurde erschossen. 1944 gab es zwölf solcher Todesfälle plus einen, der erschossen wurde. Vor der Befreiung 1945 brachte er noch weitere drei um, zwei durch regelrechte Morde und einen mit Hilfe eines ›Unfalls‹. Insgesamt hielten wir ihn für direkt verantwortlich für den Tod von sechsundzwanzig Widerstandsleuten und durch Denunziation indirekt für noch weitere fünfzig.«
»Und was passierte nach dem Krieg?«
»Wir arbeiteten auf Hochtouren, um ihn aufzustöbern. Nach der Befreiung haben wir ja mehrere Denunziantenbanden gesprengt und mit allen, die wir schnappten, intensive Verhöre durchgeführt. Aber es zeigte sich, daß sich auch auf der anderen Seite keiner darüber im Klaren war, wer ›Giftratte‹ war. Ein deutscher Offizier gestand, daß er ab und zu als Verbindungsmann zwischen einem Denunzianten und der Gestapo fungiert hatte. Die Person hatte gehinkt, hatte aber einen Strumpf über das Gesicht gezogen. Er nahm an, daß es sich um einen Mann gehandelt hatte, um die 1,70 groß und ziemlich kräftig gebaut. Der Mann hatte einen größeren Betrag entgegengenommen, und sie hatten sich auf dem Weg am Svartedik getroffen. Der Hinkende war auf dem Weg stadtauswärts, der Deutsche unterwegs stadteinwärts gewesen. Ein anderes Mal hatte das Treffen auf Sydneshaugen stattgefunden, in einer engen Gasse zum Dragefjell hin. Einmal in Nordnes, ein anderes Mal im Sandbrekkevei oben in Fana. Immer im Dunkeln, immer mit dem Strumpf vor dem Gesicht. Wir schlossen daraus, daß vielleicht nicht einmal die Gestapo seine wirkliche Identität kannte. Hatte sich nur seiner Hilfe bedient. Der deutsche Offizier brachte nämlich die Bezahlung mit, jedesmal nach vollendeter Arbeit. Er muß auf diese Weise wie eine Art Freelancer agiert haben, ein einsamer Wolf.«
»Aber …«
»Verstehst du, was das ganze so unmöglich machte, war erstens, daß niemand ihn jemals gesehen hatte, vielleicht die ausgenommen, die er tötete. Zweitens, daß es keine sicheren Beweise dafür gab, daß diese Unfälle wirklich Morde waren. Es hätten auch Unfälle sein können, wenn es vereinzelte Fälle gewesen wären, die nicht ein Muster ergaben.«
»Aber …«
»Aber«, sagte er verbittert, »ich hatte einen Verdacht. Einen sehr schwerwiegenden Verdacht.«
»Ja und? Erzähl!«
Wieder suchte sein Blick im Lokal herum. Der magere Mann mit dem traurigen Aussehen hatte den Tisch neben uns verlassen. Der Lautstarke saß vornübergebeugt und erzählte seine lustigen Geschichten in sein Bierglas. In regelmäßigen Abständen verteilte sich ein nasses Grinsen auf seinem Gesicht, aber das Lachen war lautlos, stumm.
Hjalmar Nymark sagte: »Es gab da einen Mann, der Harald Wulff hieß. Ja – Wulff, aber mit zwei f. Er kam aus der Gegend um Ulven, geboren 1914 auf einem kleinen Hof und arbeitete in der Zeit zwischen den Kriegen als eine Art Elektriker. Schon 1934 wurde er Mitglied der Nasjonal Samling. Ich erinnere mich, daß er unter denen war, die wir nach einer Schlägerei im Theater 1936 auf die Polizeiwache geliefert kriegten. Als die Nazis gegen Men imorgen! von Nordahl Grieg demonstrierten. Offiziell galt er immer nur als kleiner Nazi. 1946 wurde er wegen Kollaboration verurteilt und saß, bis er nur drei Jahre später auf Bewährung freigelassen wurde. Bei ein paar der Unglücksfalle, in denen ich ermittelte, gab es einige, die meinten, Harald Wulff vielleicht in der Nähe gesehen zu haben. Leute, die ihn von Zusammenstößen aus der Zeit zwischen den Kriegen kannten. Aber es gab nie jemanden, der hundertprozentig sicher war. Er war schließlich in einer ganz besonderen Lage. Er hinkte nämlich.«
»Aha!?«
»Vierzehn Jahre alt erlitt er einen Unfall, danach hinkte er – auf dem linken Bein, wir verhörten ihn so gründlich, wie es möglich war, 1945. Konrad Fanebust, der gelernter Jurist war, und ich selbst leiteten die Verhöre, aber es war wie der Versuch, Wasser aus einem Granitgneis zu pressen. Kein Wort, nicht das kleinste Geständnis. – Wir hatten noch eine Spur. Die Morde, die mit einer Pistole begangen worden waren – bei dreien davon fanden wir die Kugeln. Alle waren aus der gleichen Pistole mit dem gleichen Kaliber abgefeuert, einer Luger 505. Also einer deutschen Pistole. Als wir Wulff 1945 verhafteten, wohnte er in einer erbärmlichen kleinen Pension draußen in Nordnes, aber in seinem Zimmer fanden wir gar nichts. Seine Eltern waren tot und weitere Familienangehörige hatte er nicht. Den Hof in Ulven hatten andere übernommen; trotzdem durchsuchten wir ihn so gründlich, daß wir fast Stein für Stein und Planke für Planke voneinanderrissen. Aber keine Pistole. Sie wurde bis heute nicht gefunden. Wahrscheinlich liegt sie auf dem Grund von Vågen oder irgendeines anderen Gewässers. Und ›Giftratte‹ erwischten wir nie.«
»Und das war das Ende?«
»Ich schwor mir, daß ich verdammt nochmal nicht aufgeben würde. Überall, wo Leute von ›Giftratte‹ sprachen, notierte ich alles, was sie sagten. Obwohl der Fall längst zu den Akten gelegt war, setzte ich die Untersuchungen, wenn auch mit jahrelangen Abständen auf eigene Faust fort. Bis 1971.«
»1971? Was geschah da?«
»Im Januar 1971 wurde am Rande von Nordnes die Leiche eines Mannes gefunden. Das Gesicht war häßlich maltraitiert, aber er wurde trotzdem identifiziert. Es war Harald Wulff.«
»Hast du ihn selbst gesehen?«
»Ich konnte nichts Definitives sagen. Der gleiche Körperbau, nur um vieles älter, die gleiche Behinderung am Bein, aber das Gesicht; es war einfach widerlich.«
»Und wer hat ihn identifiziert?«
»Eine Frau, mit der er zusammenlebte.«
»Und wurde dieser Fall dann aufgeklärt?«
»Wer es getan hatte? Nein. Ich werde dir was sagen – ich glaube auch nicht, daß so sehr viel getan wurde, um ihn aufzuklären. Ich selbst schied zwei Monate später aus, im März, und da war die Sache schon zu den Akten gelegt. In der Realität hieß das, nichts würde mehr geschehen, wenn nicht etwas aufsehenerregend Neues auftauchte. Die meisten rechneten damit, daß hier alte Widerstandsleute einfach das Gesetz selbst in die Hand genommen hatten, und ich glaube nicht, daß es viele gab, die das unangemessen fanden. Noch heute sind vielleicht viele verbittert darüber was damals passiert ist.«
»›Giftratte‹ bekam also am Ende seine Strafe. Wenn er es wirklich war.«
Hjalmar Nymark nickte. Das kräftige Gesicht war rotgefleckt und die Augen streiften noch immer ruhelos durch den Raum, als könne er das Suchen nach diesem Mann, den sie ›Giftratte‹ nannten, immer noch nicht lassen, oder nach seinem Gespenst.
»Aber, hör mal«, sagte ich. »Was hat dies alles mit dem Brand bei Pfau zu tun?«
Er sah mich eine Weile an, bevor er antwortete. Schließlich beugte er sich zu mir vor und sagte: »1953 war Harald Wulff bei Pfau als Bürobote angestellt.«
»Als Bürobote?«
»Solche wie er hatten es nicht leicht, Arbeit zu finden, in den ersten Jahren, nachdem sie wieder draußen waren. Er wurde über das Arbeitsamt eingestellt.«
»Aber meinst du, daß er … könnte er was mit dem Brand zu tun haben?«
»Es war jedenfalls auffällig, findest du nicht? Und der Brand wurde als ein Unglücksfall bezeichnet. Wenn es wirklich Harald Wulffs Werk war, und wenn Harald Wulff wirklich ›Giftratte‹ war, dann war dies, wenn man ein solches Wort verwenden kann, sein Meisterstück. Fünfzehn verkohlte Leichen.«
»Aber was hätte er davon gehabt?«
Hjalmar Nymark zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es Rachsucht der Gesellschaft gegenüber, anderen Menschen gegenüber, denen, die auf der richtigen Seite gewesen waren. Oder ganz einfach Gewinnsucht.«
»Meinst du, jemand hätte ihn bezahlt?«
»Zum Beispiel.« Er starrte mich verkniffen an. »Harald Wulff war einer der Helden von damals. Einer von denen, die wieder ins Flammenmeer hineingingen, um Leute zu retten. Er kam mit ein paar kleineren Brandwunden davon, wurde aber in dem Bericht mit Lob erwähnt. Das erinnerte wenig an den aalglatten Fisch, den Fanebust und ich 1945 verhört hatten.«
»Also das meintest du gestern, als du sagtest, du hättest eine Ahnung, oder war es Vermutung?«
»Die Vermutung war die: daß Harald Wulff wirklich ›Giftratte‹ war, was wir nie bekräftigen konnten. Wenn das stimmte, dann bestand die Möglichkeit, daß er etwas mit dem Brand zu tun haben konnte. Aber das waren höchst unsichere und höchst unbeweisbare Vermutungen, und keine Staatsanwaltschaft der Welt, beziehungsweise Norwegens hätte auf dieser Grundlage eine Anklage erhoben.
Wir verhörten Wulff wieder, aber das Klima 1953 war anders, als 1945. Wir mußten vorsichtiger auftreten, und Wulff selbst war aggressiver. Berief sich darauf, daß er verfolgt werde, daß er einen Fehler gemacht und seine Strafe abgesessen hätte, aber nun müsse man ihn im Namen der Gerechtigkeit davor verschonen, auch den Rest seines Lebens verfolgt zu werden.«
»Hagbart Helle – wo stand er während des Krieges?«
Hjalmar Nymark sah mich listig an. »Nachher war er unantastbar, wie so viele andere aus seiner Gesellschaftsschicht. Die Behörden traten der Wirtschaft gegenüber sehr vorsichtig auf. Trotz allem sollte ja auch während des Krieges eine gewisse Anzahl von Arbeitsplätzen aufrechterhalten werden. Die Leute wollten leben. Und in den ersten, harten Nachkriegsjahren war es wichtig, eine solide, stabile Wirtschaft aufzubauen. Man ließ bei so einigen Formen der Zusammenarbeit gerne mal fünfe gerade sein. Laß es mich mal so sagen: Hagbart Helle verlor jedenfalls nichts durch den Krieg, und sein Unternehmen stand 1945 wesentlich stärker da als 1939.«
»Es gab also keine nachweisbaren Verbindungen zwischen ihm und Harald Wulff?«
Er schüttelte den Kopf. »Keine nachweisbaren«, sagte er. »Und wenn da überhaupt welche gewesen wären, dann hätten wir zugeschlagen. Das kommunale Untersuchungskomitee wurde von Konrad Fanebust geleitet, der in dem Jahr auch stellvertretender Bürgermeister war. Niemand war so stark daran interessiert, ›Giftratte‹ in seine Klauen zu kriegen, wie er und ich, und ich erinnere mich, wir saßen bis spät in die Nacht und sahen alles durch, was wir an Material hatten, sowohl von den Verhören 1945 – 46 als auch von den Untersuchungen um den Brand. Es gab da nur einfach nichts … Und das …«
»Ja?«
»Das machte uns, mehr als alles andere, unserer Sache nur noch sicherer.«
Ich nickte und verstand, was er meinte. »Denn, was die Unternehmungen von ›Giftratte‹ kennzeichnete …«
»Genau. Das, was die Unternehmungen von ›Giftratte‹ kennzeichnete, war, daß es keine Spuren gab. Er hatte wieder zugeschlagen, acht Jahre, nachdem der Krieg vorbei war. Und das machte mich jedenfalls einer Sache sehr sicher …«
»Und das war …?«
»Nämlich, daß Harald Wulff wirklich ›Giftratte‹ war. Verstehst du jetzt, warum die Sache mit dem Brand bei Pfau mich nie losgelassen hat?«
Ich nickte. »Was passierte später mit ihm?«
»Er bekam einen neuen Job in einer Druckerei. Später andere Jobs. 1959 zog er mit einer Frau zusammen, die er kennengelernt hatte, als er bei Pfau arbeitete. Sie haben nie geheiratet, wohnten aber zusammen, bis er dann starb. Ich habe dir gestern ein Bild von ihr gezeigt, auf einem der Zeitungsausschnitte. Die jüngste Bürodame. Elise Blom war die einzige, deren Name in seiner Todesanzeige stand. Nach dem Brand bei Pfau wurde sie bei der Kommune angestellt und arbeitet immer noch da. Sie war es, die ihn endgültig identifizierte, damals 1971.«
»Gibt es ein Bild von ihm?«
»Von Harald Wulff?«
Ich nickte, und er kramte seine Brieftasche aus der Innentasche hervor. Es war eine abgenutzte, alte Brieftasche, wie sie Leute das ganze Leben mit sich herumtragen, als bewahrten sie ihre Seele darin auf. Er durchsuchte die vielen Fächer und zog zum Schluß einen vergilbten Zeitungsausschnitt heraus. Den reichte er mir, vorsichtig, als hätte er Angst, er könne sich in Luft auflösen.
Ich sah mir den Ausschnitt an. Es war ein nicht allzu deutliches Foto von den Prozessen nach dem Krieg. Fünf Männer waren auf dem Weg in einen Gerichtssaal, und der Bildtext erzählte, daß die drei in der Mitte Angeklagte, die beiden anderen Polizisten in Zivil waren. Der hintere der drei Angeklagten war Harald Wulff. Sein Gesicht wurde teilweise von dem Mann vor ihm verdeckt und man sah nicht alle Züge. Aber es war lang und schmal, fast pferdeartig. Die Nase und die Partie über den Augen waren markant, ein wenig vorstehend. Die Ohren groß. Das dunkle Haar war auf der linken Seite gescheitelt und nach hinten gekämmt und eine lange, dunkle Strähne fiel ihm auf der rechten Seite ins Gesicht. Ich kannte keinen der vier anderen auf dem Bild. Ich studierte Harald Wulff genau, bevor ich den Ausschnitt zurückgab. »Tja …«
Ich machte eine ratlose Handbewegung.
»Genau, Veum. Tja …« Er äffte meine Bewegung nach. »So enden alle Geschichten, die etwas bedeuten. Mit einem, tja’ …« Wieder die karikierte Bewegung. »So etwas wie ein happy end gibt’s einfach nicht.
Vielleicht gibt es nicht einmal Gerechtigkeit, vielleicht gibt es nur alte Starrköpfe wie mich, die es nicht lassen können, daran zu denken, daß sie Recht hatten, damals, – wir hätten Recht bekommen sollen.«
Er starrte wütend auf sein Bierglas. Es war leer. Wie um sich zu versichern, daß kein Tropfen mehr übrig war, hob er das Glas an den Mund und hielt es verkehrt herum. Ein paar Schaumflokken kamen angeflossen, das war alles. Dann setzte er das Glas hart ab und stand auf. »So, Veum. Jetzt weißt du alles. Alles, was ich weiß, oder jedenfalls die Grundzüge. – Jetzt gehe ich nach Hause. Ich bin noch nicht in Form. Bis dann!«
Ich wollte aufstehen, aber er nickte zu meinem halbvollen Glas hin.
»Bleib ruhig sitzen. Mach’s gut so lange.« Er schenkte mir ein grimmiges Lächeln, zog seinen Mantel an und ging mit der zusammengerollten Zeitung in der Hand hinaus. Die Tür schwang hinter ihm zu.
Ein paar Sekunden später hörte ich es, durch die halboffenen Fenster hinter den graugelben Gardinen zur Seitenstraße hin. Das Geräusch eines aufheulenden Motors, Quietschen von Bremsen, Reifen, die über seifenglattes Kopfsteinpflaster schlitterten, etwas Hanes, Metallenes, das gegen irgendetwas schlug – und dann: den grauenvollen dumpfen Laut eines Körpers, der auf den Boden schlägt, nachdem er durch die Luft geschleudert wurde. Der Automotor heulte wieder auf, und ich hörte den Wagen um die nächste Ecke schleudern.
Ich warf den Tisch um, so schnell stand ich auf. Alle im Lokal sahen zum Fenster, mit Gesichtsausdrücken, die je nach dem Maß der Betrunkenheit verschiedene Grade von Verblüffung zeigten. Ich stürmte am Türsteher vorbei hinaus. Am Ende des Strandkais sah ich einen großen, dunkelblauen Lieferwagen bei Murhjørne um die Ecke biegen und verschwinden. Ich lief weiter, um die Ecke.
Das kleine Straßenstück lag verlassen. Ganz oben an der Kreuzung in Richtung Strandgate tauchten zwei Menschen auf, mit verschrecktem Ausdruck im Gesicht. Der Zeitungsstand gleich um die Ecke lag umgeworfen auf dem Gehsteig, aber das war unbedeutend. Viel bedeutender war, daß mitten auf der Straße, mit dem Gesicht zum Pflaster, Hjalmar Nymark lag. Die zusammengerollte Zeitung lag halb geöffnet im Rinnstein, wo der rauhe Wind ein paar der Seiten aufflattern ließ, wie die Flügelschläge eines sterbenden Vogels. Und das war alles, was sich bewegte.

5 Norwegische Widerstandsorganisation während der deutschen Besetzung
1940-45
6 Die Partei der norwegischen Nationalsozialisten unter Vidkun Quisling

6

Ich kniete mich neben Hjalmar Nymark. Ihn zu berühren, wagte ich nicht, für den Fall, daß er das Genick gebrochen hatte, aber ich beugte mein Gesicht ganz tief zur Straße und versicherte mich, daß er nichts im Mund hatte, das ihn am Atmen hinderte. Meine Finger tasteten seinen Hals entlang. Sein Puls schlug, aber unregelmäßig. Ein dünner Streifen Blut lief aus dem einen Ohr, und die Nase sah aus, als sei sie beim Aufschlag zerquetscht worden.

Der Nieselregen bedeckte uns mit einer leichten Schicht winziger Tröpfchen, und es floß still im Rinnstein, wo seine Zeitung sich langsam voll Wasser sog und reglos liegenblieb.

Der Türsteher des Lokals kam herüber. »Ich habe nach einem Krankenwagen telefoniert«, sagte er. »Ist er …?«

»Noch nicht.« Ich behielt meine Hand an der Seite seines Halses. Der Puls war jetzt schwächer.
Verzweifelt sah ich mich um. Das kleine Straßenstück war auffallend menschenleer. Die beiden Leute oben an der Straßenecke waren dort stehengeblieben, wie um zu demonstrieren, daß sie mit all dem nichts zu tun hatten.
Dann kam der Krankenwagen. Die beiden Träger bewegten sich schnell und routiniert auf der Straße. Ein kurzer Überblick erzählte ihnen alles, was sie über die Situation wissen mußten. Sie stützten seinen Nacken, während sie ihn auf die Bahre und in den Wagen hoben. Ich folgte nach.
»Kommst du mit?« fragte der eine von ihnen.
»Ich kenne ihn.«
Er machte ein Zeichen, daß ich mich hinten in den Wagen setzen sollte. Dann griff er nach dem Sauerstoffgerät, das unter dem Dach über uns hing.
Ich beugte mich zum Fahrersitz vor. »Hast du ein Funkgerät?« Der Fahrer setzte den Wagen in Bewegung und nickte. »Mach eine Meldung an die Polizei, daß sie nach einem großen, blauen Lieferwagen Ausschau halten sollen, der in Richtung Nordnes fuhr. Auf jeden Fall fuhr er um Murhjørnet herum«, fügte ich hinzu.
»Sonst noch was?«
Ich zögerte. »Grüß von Veum und sag, daß ich im Krankenhaus bleibe, bis …« Ich wußte nicht, was ich zu erwarten hatte. »Bis alles klar ist.«
Er machte ohne weitere Fragen über das Funkgerät Meldung, startete die Sirenen und beschleunigte mit einem leichten Druck auf das Gaspedal. Wir fuhren über die erste Kreuzung, als die Ampel von gelb auf rot sprang und die Häuser rasten an uns vorbei, als säßen wir im Kino und drinnen im Vorführraum spielte irgendetwas verrückt. Trotzdem sah ich mit erstaunlicher Klarheit, woran wir vorbeifuhren. Leute, die sich nach uns umdrehten und starrten, Autos, die zur Seite schwenkten und Autofahrer, die uns im Moment des Vorbeifahrens ihre Gesichter zuwandten.
Der andere Träger, ein junger Mann mit hellem, kurzgeschnittenem Haar und jungenhaftem Flaum die roten Wangen hinunter, hielt die Sauerstoffmaske einsatzbereit direkt vor Hjalmar Nymarks Gesicht. Der breite Brustkasten bewegte sich kaum erkennbar auf und ab, und ab und zu kam ein gurgelnder Laut von irgendwo tief aus seinem Körper. Keiner von uns sagte etwas.
Der Wagen fuhr direkt nach Haukeland. Als wir an der Spitze von Kalfaret waren, hob Hjalmar Nymark plötzlich den Kopf und sah sich um. Der Blick war verwirrt. Dann fand er mich. Seine Stimme war heiser, unsicher: »Veum?«
Ich nickte und lächelte: ein gespanntes, eisernes Lächeln.
Er wollte noch mehr sagen. Er suchte nach Worten. Ich beugte mich zu ihm vor. Der junge Träger beobachtete uns aufmerksam. Der Chauffeur sah uns im Spiegel an.
Hjalmar Nymark sagte: »Veum … Wenn ich sterbe …«
Ich nickte, um zu zeigen, daß ich verstand, dann schüttelte ich den Kopf, um zu sagen, daß er nicht sterben würde.
»Find raus, … was wirklich passiert ist, mit Stauer-Johan … 1971 …«
Dann schloß er die Augen und war wieder weg. Gerade, als wir durch das Tor zum Krankenhaus einbogen, öffnete er unvermittelt die Augen und sagte: »1971. Stauer-Johan.« Dann war er wieder weg.
Die beiden Träger liefen mit Hjalmar Nymark auf der Bahre vorsichtig in das Gebäude. Routinierte Krankenschwestern empfingen ihn, und ich folgte ihnen, hinein in den Fahrstuhl und im Haus hinauf, ohne daß jemand etwas sagte.
Hjalmar Nymark wurde direkt in den Operationsraum gefahren. Eine liebenswürdige Frau mit schwarzem Haar, olivenfarbener Haut und dunkelbraunen Augen wies mich in einen kleinen Tagesraum mit Möbeln, die vom Flohmarkt der Inneren Mission hätten stammen können und Topfpflanzen, die aussahen, als hätten sie schon den ersten Weltkrieg überlebt.
Unter einem der Tische lag eine magere Auswahl der Zeitungen vom Vortag. Das schien mir passend. Ich fühlte mich selbst wie eine der Nachrichten von gestern.

7

Niemand störte mich. Der kleine Tagesraum war vom Korridor durch eine dünne Wand mit Glas in der oberen Hälfte getrennt. Draußen vor den Glasfenstern sah ich geschäftige Menschen in Weiß vorbeihasten.

Keiner von ihnen würdigte mich auch nur eines Blickes. Solange nicht ich mich an jemanden wandte, ließ man mich in Frieden sitzen. Vielleicht war das genauso, wenn man Patient war. Wenn du zu niemand etwas sagtest, sondern nur einfach liegenbliebst, wo sie dich hinschoben, würde niemand dich stören, bis man irgendeines Tages entdeckte, daß ein Haufen Fliegen auf dir saß.

Hauptwachtmeister Jakob E. Hamre guckte durch die Scheibe in der Tür, bevor er anklopfte und zu mir hereinkam. »Dachte ich’s mir doch«, sagte er. »Dein neues Büro, was,

Veum?«
»Friedlicher kann ich’s nicht kriegen«, antwortete ich. »Nimm

Platz. Kann ich dir was anbieten? Ein Glas Naphta? Eine Dosis Valium? Oder was fürs Herz?«

Er sah mich prüfend an und setzte sich auf einen freien Stuhl, ein halbes Lächeln um den Mund. »Immer noch der alte, Veum? Nichts hinterläßt seine Spuren, was?«

»Oh doch, aber nur innerlich.«
Jakob E. Hamre war tadellos gekleidet, in hellem doppelreihigem Trenchcoat über grauem Anzug, schwarzen Schuhen,

hellblauem Hemd und dunkelblauem Schlips. Er war ein paar Jahre jünger als ich, aber dem Aussehen nach konnten es durchaus zehn sein, und er war um viele Jahre hübscher. Jakob E. Hamre gehörte zu jenen Polizisten, die einen an Pfadfinderjungs erinnern, aber schlau sein können wie alte Zuhälter. Er war auf eine leicht unpersönliche Weise sympathisch: ein Typ, wie ihn sich alle Schwiegermütter wünschen, mit dem aber die wenigsten Töchter zufrieden wären.

»Ich hab deine Nachricht erhalten«, sagte er, »und bin gleich selbst vorbeigekommen. Weißt du etwas?« Kr blickte fast irgendwie schüchtern auf seine Fußspitzen hinunter, bevor der Blick nach oben kam und an meinem Gesicht hängenblieb, fest und wach.

»Habt ihr den Wagen gefunden?« fragte ich.

 

Er nickte. »Er stand direkt draußen in der C. Sundsgate und war allem Anschein nach gestohlen.«

»Hm. Also, Hjalmar Nymark und ich, wir waren einfach Freunde, kann ich wohl sagen. Oder Bekannte. Ich kannte ihn noch nicht lange, aber wir waren ins Reden gekommen, und wir hatten ja auch so einige Anknüpfungspunkte.«

»Was meinst du?«
»Als Detektive, beide. Er sprach viel von früheren Fällen.« Er beugte sich interessiert vor. »Willst du damit sagen, daß

Hjalmar Nymark sein Rentnerdasein damit verbrachte, in alten Kriminalfällen herumzuwühlen?«

Ich nickte langsam. »Ich weiß nicht, wieviel er darin gewühlt hat, aber er beschäftigte sich jedenfalls damit. Wie geht es ihm? Weißt du was?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich bekam Bescheid, zu warten. Sie haben ihn jetzt gerade auf dem Tisch da drinnen. – Was für Fälle waren das, von denen er sprach, Veum?«

»›Giftratte‹, ein Typ, den sie ›Giftratte‹ nannten, sagt dir das was?«
Er schüttelte verneinend den Kopf.
»Der Brand bei Pfau denn?«
In seinen klaren Augen blitzte es auf. »Ganz vage.«
»Tja, mir sagte es auch nichts. ›Giftratte‹ war ein berüchtigter Denunziant aus der Kriegszeit. Es wurde nie aufgedeckt, wer er wirklich war. Pfau war eine Farbenfabrik im Fjøsangervei, die 1953 abbrannte. Fünfzehn Leute kamen ums Leben, und ein Mann, den Hjalmar Nymark verdächtigte, ›Giftratte‹ zu sein, war als Bürobote dort angestellt, als es passierte.«
»Wie hieß er?«
»Harald Wulff.« Er hatte ein Notizbuch hervorgeholt und schrieb den Namen auf. Ich setzte hinzu: »Aber er ist tot.«
»So?« Er hörte auf zu schreiben und sah vor sich hin.
»Erzähl mir, wovon habt ihr heute gesprochen?«
»Von diesem Typen – ›Giftratte‹. Er … Er wirkte nervös, als sei jemand hinter ihm her. Aber er schob es auf den Schnaps. Wir haben gestern eine Flasche zusammen getrunken, er und ich.«
»So?«
»Und als er ging … Ich saß direkt bei den Fenstern zur Seitenstraße hin, als es passierte. Ich hab es gehört: den aufheulenden Motor, die kreischenden Bremsen, und dann – das Geräusch seines Körpers als er auf dem Boden aufschlug.«
Wieder beugte er sich nach vorn. »Mit anderen Worten es kann also kein Unfall gewesen sein?«
»Verdammt nochmal, nein! Irgendwer hat ihn umgefahren, Hamre, und das mit Absicht.«
»Warum?«
Ich zuckte mit den Schultern und warf die Hände in die Luft.
Er sagte: »Ein Kriminalbeamter macht sich schon ein paar Feinde im Laufe seines Lebens. Vielleicht war es so jemand, der Hjalmar Nymark da draußen in der Seitenstraße erwartet hat …«
»Im Krankenwagen, auf dem Weg hierher, erwähnte er was.« Ich zögerte ein wenig. »Wenn ich sterbe, sagte er.«
»Ja?«
»Dann sollte ich versuchen herauszufinden, was mit StauerJohan passiert ist, 1971.«
»Stauer-Johan, 1971?« Sein Kugelschreiber war wieder da.
»Sonst nichts?«
»Nein. Nur das.«
»Wir werden …«
Er wurde von einer Krankenpflegerin unterbrochen, die vom Korridor hereinkam und sich an ihn wendete. »Der Arzt bittet Sie, hereinzukommen, Herr Hauptwachtmeister«, sagte sie förmlich. Mich sah sie überhaupt nicht an. Es saßen noch keine Fliegen auf mir.
Hamre nickte kurz und ließ mich allein. Ich blieb sitzen und behielt den Korridor vor der Tür im Auge. Die Gestalten dort draußen glitten still vorbei, wie die Figuren eines Puppentheaters für Taube. Alles war still. Das einzige, was ich hörte, waren die weichen Pfoten des Regens an den Fenstern: ein Plüschtier, das hereinwollte.
Nach einer Viertelstunde kam Hamre zurück. Er sah erleichtert aus.
»Es wird gutgehen, Veum. Er ist schwer verletzt, aber er überlebt.«
»Wie schwer?«
Er blätterte in seinem Buch und las: »Schädelbruch. Starke Gehirnerschütterung, ein Trommelfell geplatzt. Der rechte Arm gebrochen, direkt über dem Handgelenk. Eine gebrochene Rippe und vier angebrochene. Verletzungen an der rechten Niere. Bruch des linken Oberschenkels und des rechten Knöchels. Innere und äußere Quetschungen, Nasenbeinbruch.« Er sah auf. »Die haben ihm sein Profil eingedrückt.«
»Ist er bei Bewußtsein?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Sie haben ihm was zum Schlafen gegeben. Er brauche zwar viel Schlaf, aber er habe eine starke Konstitution für sein Alter, sagte der Arzt, und er sei sicher, daß es gutgehen würde.«
Ich stand auf und sah zur Tür. »Na, dann …«
Er knöpfte seinen Mantel zu. »Mehr ist da nicht, was dir noch einfallen könnte, Veum? Er hat nichts davon gesagt, wo er hinwollte, als er aus dem Lokal ging?«
»Nur, daß er nach Hause wollte.«
»Traft ihr euch oft?«
»Drei-viermal die Woche vielleicht.«
»Warst du mal bei ihm zuhause?«
»Nur einmal, gestern. Er zeigte mir ein paar alte Zeitungsausschnitte von dem Pfau-Brand.«
Er nickte. »Ich werd in der Richtung mal ein bißchen nachforschen. Kannst du nicht morgen kurz bei mir reinschauen, sagen wir, so gegen elf?«
Ich nickte. Dann sagte ich: »Kanntest du Hjalmar Nymark, Hamre?«
»Nicht persönlich. Er schied 1971 aus, und da war ich woanders stationiert.«
»Wo denn?«
»Wo?« Er hob ironisch die Augenbrauen. »In Stavanger.«
»Dann kanntest du vielleicht einen Polizisten namens Bertelsen?«
Er sah mich ironisch an. »Na klar. Den kenn ich. Aber ich würde nicht meinen, daß er dein Typ ist, Veum.«
»Das war er auch nicht.«
Wir gingen gemeinsam auf den Korridor hinaus und fanden den Weg nach draußen. Vor dem Gebäude blieben wir einen Augenblick stehen. Hamre zeigte auf einen schwarzen Volkswagen. »Kann ich dich nach Hause fahren, Veum?«
»Danke, aber ich glaube, ich brauch ein bißchen frische Luft.«
»Also gut.« Er hob die Schultern. »Dann sehen wir uns morgen.«
»Abgemacht.«
Er ging zum Wagen. Plötzlich kam mir ein Gedanke und ich rief ihm nach: »Hamre …«
Er drehte sich um. »Ja?«
»1971«, sagte ich, »das war das Jahr, in dem Harald Wulff starb. Das Jahr, in dem etwas passierte mit einem, den sie Stauer-Johan nannten. Und das Jahr, in dem Hjalmar Nymark in Rente ging.«
»So?« sagte Jakob E. Hamre gedankenverloren, nickte zerstreut, setzte sich in sein Auto und fuhr davon.

8

Am Tag darauf trieb der Nebel wie Gespenster durch die Straßen. Graue Fangarme griffen von den Hausecken nach mir, und meine enge Gasse herauf kam ein kalter Luftzug vom Meer, ein Wind, der den Herbst ankündigte.

Jakob E. Hamre saß am Telefon, als ich in sein Büro kam. Er winkte mich auf den Platz in dem unbequemen Stuhl und setzte das Telefongespräch fort. Während er sprach, notierte er etwas auf einem Zettel. »Zwei Liter Milch, einen Liter Kefir, ein Kilo grobes Roggenmehl – und Eier. – Ich werd mal sehen. – Ja. – Wie immer, hoffe ich. – Fein. Tschüß.«

Ich sah mich um. Wie lange war es her, daß ich hier zuletzt gesessen hatte, Zwei-drei Jahre, und das Büro hatte sich nicht verändert. Es war genauso, wie ich es erinnerte: ein Raum, den du vergaßt, ehe du wieder aus der Tür warst. Ausdruckslose Wände in einer unbestimmbaren Farbnuance, Bücherregale mit Akten und Gesetzbüchern, derselbe alte Ausblick auf dasselbe alte Bankgebäude. Ich hatte in einer Reihe solcher Büros gesessen: meistens waren es Räume, aus denen man sich schnell wieder hinauswünschte.

Sein Schlipsknoten war eine Spur ausgelassen, sonst war Jakob E. Hamre tadellos wie eh und je. Das hübsche Gesicht starrte mir ruhig und unergründlich entgegen; das dunkle, gut geschnittene Haar fiel wohlberechnet von der rechten Seite in die Stirn. Es war eine Eleganz an Jakob E. Hamre, die andeutete, daß er eigentlich auf die andere Seite der Straße gehörte: Der liebenswürdige Kreditchef, der mit betrübter Miene dein Kreditgesuch abschlägt.

»Wie steht’s mit ihm?«

»Er macht sich. Es ist möglich, daß wir heute mit ihm sprechen können – später.«
»Und die, oder der in dem Wagen?«
Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Nichts. Natürlich kommen die gewöhnlichen Zeugenaussagen rein, aber wenig Konkretes. Eine alte Dame meint, einen blauen Lieferwagen gesehen zu haben, der mit einem Mann hinter dem Steuer geparkt stand, aber sie hat ihn nicht näher angesehen und und sie ist außerstande, etwas zu liefern, was auch nur annähernd einer Personenbeschreibung gliche. – Die Untersuchung der Fingerabdrücke ist vorläufig ergebnislos. Wir arbeiten mehr mit dem Wagen selbst, natürlich, aber …«
»Wem gehörte der Wagen?«
»Einem Sportgeschäft. Er wurde nachmittags nie benutzt.«
»Was ist mit den Dingen, die ich erwähnt habe?«
Hamre lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte die Hände auf die Kante des Schreibtisches und betrachtete sie einen Moment lang, als überlege er, ob die Nägel kurz genug seien. Darauf sah er grübelnd vor sich hin und sagte: »Ich habe mich ein bißchen umgehört – hier im Haus. Hjalmar Nymark war in vieler Hinsicht ein ausgezeichneter Polizist. Aber er hatte einen grundlegenden Fehler. Er hatte die Neigung, sich bei einigen Fällen, mit denen er arbeitete, ein bißchen zu persönlich zu engagieren. Das war nicht immer so glücklich. Und speziell gegen Ende seiner Zeit hier hatte er dann ein paar Steckenpferde, auf denen er dauernd herumritt. Eines dieser Steckenpferde war der Brand bei Pfau.«
Er machte eine ausladende Handbewegung und sah mich resigniert an.
»Aber wer zum Teufel schert sich um zwanzig Jahre alte Industriebrände, wenn wir kaum genügend Kapazität haben, um die täglich anfallenden Aufgaben zu bewältigen?«
»Aber was ist mit dem anderen Fall? Was ist mit StauerJohan?«
Er seufzte. »Das ist der letzte Fall, mit dem Hjalmar Nymark arbeitete, bevor er ausschied. Auch der wurde zu einer fixen Idee bei ihm.«
»Wieso?«
Hamre sah aus dem Fenster. »Wie viele solcher Fälle haben wir im Jahr? Irgendwelche losen Vögel in dieser Stadt verschwinden. Einige von ihnen haben nichts weiter getan, als den Zug nach Oslo zu nehmen. Andere finden wir nach ein paar Wochen oder Jahren, im Meer treibend. Manche haben sich zu Tode gesoffen oder liegen irgendwo in einer kümmerlichen Bude, bis jemand anfangt, sie zu vermissen. Und einige werden natürlich erschlagen: es ist ein hartes Milieu, in dem sie sich herumtreiben. Solche Fälle sind häufig und sie kommen auf der Prioritätenliste selten nach oben. Jedenfalls nicht, bevor etwas Konkretes festgestellt worden ist. Stauer-Johan war ein solcher Fall.«
»Erzähl!«
Er suchte eine Ermittlungsakte aus dem Haufen links auf dem Schreibtisch und blätterte darin. »Johan Olsen, geboren 1916 in Bergen. Ehemaliger Seemann und Hafenarbeiter. Illegale Tätigkeit während des Krieges. Alkoholiker. Eine Strafe für Herumtreiberei, 1960, sonst ein leeres Strafregister. Er verschwand im Januar 1971, wurde aber erst im Februar als vermißt gemeldet.«
»Wer meldete ihn als vermißt?«
»Eine Frau. Olga Sørensen, seine – periodenweise – Lebensgefährtin, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen.«
»Und warum meldete sie sein Verschwinden erst im Februar?«
Er zuckte mit den Schultern. »Sie hatte wohl damit gerechnet, daß er nur wieder auf der Piste war.«
»Und das Resultat der Ermittlungen?«
Er überblätterte ein paar Seiten, während er murmelte: »Er wurde nie gefunden. Formal betrachtet gilt er nach wie vor als vermißt. Aber vielleicht lebt er in schönster Wonne … auf den Kanarischen Inseln oder sonstwo, wo Sonne und Schnaps leichter zugänglich sind, als in unseren Breiten.«
»Gibt es ein Bild von ihm? Eine Beschreibung?«
Er blätterte weiter durch die Akte, zog ein Foto hervor und reichte es mir. Es war ein Foto, wie sie es auf der Polizeiwache machen, um dich bei späteren Gelegenheiten damit zu überraschen: bei greller Beleuchtung, von vorn und von der Seite. Du siehst aus, wie die meisten Leute auf Paßbildern aussehen. Der einzige Unterschied ist, du stehst tatsächlich im Verbrecheralbum.
Johan Olsen, auch Stauer-Johan genannt, hatte ein längliches, pferdeartiges Gesicht, dem von Harald Wulff ganz und gar nicht unähnlich. Aber seine Ohren waren kleiner und die Augen lagen weit auseinander. Er war unrasiert, und es lag ein bitterer, ein wenig hämischer Zug um den Mund mit den schmalen Lippen.
»Hier ist die Beschreibung«, sagte Hamre und gab mir ein Papier. Ich las es rasch durch. Johan Olsen war 1,76 groß, seine Augen waren blau und das Haar dunkelblond gewesen. Abgesehen von einer alten Verletzung am linken Knie, die ihn hinken ließ, hatte er keine besonderen Kennzeichen.
Ich las den letzten Satz zum dritten Mal, um ganz sicher zu gehen, daß er da stand. Dann blickte ich Hamre starr in die Augen, während sich in meinem Magen ein unruhiges Kribbeln breitmachte. »Ich kann gut verstehen, daß sich Hjalmar Nymark für das hier interessierte«, sagte ich.
»Woran denkst du dabei?«
»Hast du denn nicht gelesen? Stauer-Johan hinkte auf dem linken Bein. Das gleiche tat Harald Wulff. Und Harald Wulff verschwand – sozusagen – genau gleichzeitig mit Stauer-Johan. Im Januar 1971.«

9

»Ich hab die Papiere über Harald Wulff hier«, sagte Hamre und suchte eine neue Akte hervor. Sie war etwas fülliger als die andere. Er stieß mit dem rechten Zeigefinger in die dritte Akte, die wiederum mehr als doppelt soviel enthielt wie die beiden anderen zusammen. »Und hier, der Brand bei Pfau. Sogar den hab ich herausgesucht.« An der Innenseite der Pfau-Akte waren Spuren von Spinnengewebe. Wenn er sie anstieß, stand eine Staubwolke im Raum. »Wie du siehst, führen wir gründliche Ermittlungen durch.«

»Das bezweifle ich nicht.«

 

»Dann ist es ja gut. Also …« Er öffnete die Akte mit dem

Material über Harald Wulff. Die vergilbten Gerichtsprotokolle des Landesverratsprozesses nach dem Krieg überblätterte er rasch. Sie waren mit Kopien von Verhören zusammengeheftet. »Das hier ist alter Stoff«, murmelte er. »Aber hier …« Der letzte Abschnitt von Harald Wulffs Leben war mit großen Büroklammern zusammengeheftet. Er öffnete einen braunen Umschlag, aus dem er eine Handvoll Fotografien herauszog. Mit neutraler Miene sah er sich die Bilder an. Dann gab er sie mir.

Die Fotos von Harald Wulff waren nicht schön. Auf dem einen lag er nackt auf dem Rücken, und das Bild zeigte, daß der ganze Körper voller blauer Flecken und blutender Stellen war. Er hatte eine ordentliche Portion Prügel bezogen. Aber man brauchte gar nicht seinen Körper anzusehen, um das zu erkennen. Das Schlimmste hatte der Kopf abbekommen. Das Gesicht war zertreten. Mit einer Brutalität, die alles, was ich bisher gesehen hatte, übertraf, hatte jemand seine Gesichtszüge zu einer undefinierbaren Masse von Knochen, Knorpel, Hackfleisch und Blut verwandelt. Das struppige Haar war vom Blut verklebt und der eine Arm war offensichtlich gebrochen. Knochenreste stachen aus dem Unterarm, und die Finger spreizten sich.

Die anderen Fotos waren Nahaufnahmen, einige davon so, daß sich mir der Magen umdrehte. Eines zeigte einen Ring, den er am linken Ringfinger getragen hatte. Das Muster darin war deutlich erkennbar: ein Sonnenkreuz.

Drei-vier Fotos zeigten aus verschiedenen Winkeln, wie die Leiche ausgesehen hatte, als man sie fand. Sie lag auf dem Schotter, umgeben von schmutzigen Schneeresten, und auf einem erahnte man ein paar Hafenschuppen aus Holz, auf einem anderen schwarze, blattlose Bäume.

Ich legte die Bilder zurück auf den Schreibtisch. »Nicht gerade etwas für die Sonntagsschule«, sagte ich. »Wie haben sie es geschafft, ihn zu identifizieren?«

Hamre blätterte in den Papieren. »Da war eine Frau, die mit ihm zusammen wohnte. Äh … Elise Blom.«

Ich nickte, den Namen wiedererkennend. »Sie arbeitete bei Pfau.«
Er sah von den Papieren auf. »So? Ja, genau, das tat Harald Wulff ja auch. Als Bürobote, nicht?«
»Doch!«
Er fuhr fort: »Also, Elise Blom identifizierte ihn.«
»In diesem Zustand?«
Er betrachtete mich nachsichtig. »Eine Frau, die …« Ein erneuter Blick in die Papiere. »… zwölf Jahre mit ihm zusammengelebt hatte. Da gibt es andere Merkmale, als die, die wir im Gesicht mit uns herumtragen, Veum.«
»Ja, schon. Ich dachte nur irgendwie … Es muß eine ganz schöne Belastung für sie gewesen sein.«
»Und der Ring, der war definitiv seiner.«
»Er hätte einem anderen aufgesetzt worden sein können.«
»Na gut. Aber es gab überhaupt keinen Grund, an Elise Bloms Zeugenaussage zu zweifeln. Außerdem wurde sie bei den Ermittlungen gründlich verhört.«
»Hat sie ihn suchen lassen?«
»Dazu war keine Zeit. Harald Wulff ging ins Kino – sagte er – am 13. Januar 1971. Er kam in der Nacht nicht zurück, aber Frau, oder Fräulein Blom zufolge war das nicht ungewöhnlich. Er war da unberechenbar. Kaputte Nerven noch aus dem Krieg, sagte sie. In bestimmten Perioden konnte er kaum schlafen und streifte dann nächtelang durch die Straßen. In dieser Nacht aber nicht.«
»Nein?«
»Er wurde am 14. Januar gegen sieben Uhr gefunden, als die Leute da draußen zur Arbeit kamen. Es geht ein Seitenweg zu den Hafenschuppen hinunter, draußen auf der Nordseite von Nordnes, und er lag ganz unten vor den Schuppen. Es gab Spuren eines Kampfes rund herum im Schnee, aber niemand in der Nähe hatte etwas Ungewöhnliches gehört. Du weißt ja, es ist nicht gerade eine der friedlichsten Gegenden der Stadt.«
»Ich weiß. Ich bin da draußen aufgewachsen.«
»Er hatte einen Postausweis in der Innentasche der Jacke und eine Brieftasche mit 180 Kronen. Wir suchten seine Adresse auf, und da fanden wir Elise Blom.«
»Und Hjalmar Nymark nahm an den Ermittlungen teil?«
»Das stimmt.«
»Konnte er Wulff identifizieren?«
»Er hatte doch keinen intimen Verkehr mit ihm, Veum. Und es war fast zwanzig Jahre her, daß er ihn zuletzt gesehen hatte. Man versuchte, jemanden zu finden, der Elise Bloms Aussage bestätigen konnte, aber das erwies sich als unmöglich. Sie lebten ein sehr zurückgezogenes Leben – ohne Freunde, ohne Familie. Wie in einer Art Exil.«
»Paß mal auf! – Als Stauer-Johan verschwand, gab es da jemanden, der seiner Freundin die Leiche von Harald Wulff vorführte?«
Er schüttelte den Kopf. »Dafür gab es keinen Grund. Erstens wurde Harald Wulff Mitte Januar gefunden, während nach Stauer-Johan überhaupt erst einen Monat später gesucht wurde, und diese Suche wurde wie gesagt nie besonders vorrangig behandelt. Mitte Februar waren außerdem die Ermittlungen im Fall des Mordes an Harald Wulff so gut wie abgeschlossen.«
»So schnell?«
»Ja.«
Er durchblätterte den Papierhaufen zu diesen Ermittlungen.
»Wir haben versucht, seinen Bekanntenkreis zu erfassen, auch den aus der Zeit des Krieges. – Aber das war nicht leicht. Es gab selbstverständlich eine Menge technischer Indizien am Tatort: unter anderem einige Fußspuren im Schnee, Spuren von zweien, zusätzlich zu denen Harald Wulffs, und die Spuren eines Wagens, der neben einer der alten Depotbarracken geparkt war. Aber die Nachforschungen ergaben kein Resultat. Davon abgesehen …«
»Ja?«
»Man kann es gutheißen, oder auch nicht. Ich selbst hatte wie gesagt mit diesen Ermittlungen nichts zu tun. Ich war nicht einmal in der Stadt.«
»Was kann man gutheißen oder auch nicht?«
»Diesen Mord, er hatte doch einen besonderen Charakter, oder?«
»Ich weiß nicht recht. An was denkst du dabei – die Brutalität?«
Er nickte. »Alles deutet auf einen Anfall von Raserei hin – oder einen Racheakt. Harald Wulff war ein bekannter Denunziant und aus den Dokumenten geht hervor, daß er stark verdächtigt wurde, mit dieser ›Giftratte‹, von der du gestern sprachst, identisch zu sein.«
»Genau!«
»Also, es war naheliegend, zu glauben, daß es ein Widerstandskämpfer war, oder auch zwei, von der richtigen Seite, um es mal so auszudrücken, die endlich die Zeit für reif befunden hatten, Nemesis zu spielen. Und es gab sicher viele – auch unter den Polizisten – die meinten, daß Harald Wulff nur bekommen hatte, was er verdiente.«
»Also wurde das Verfahren eingestellt?«
»Es wurde behandelt, wie alle anderen, aber nach einem Monat konzentrierter und ergebnisloser Ermittlungen – und außerdem noch weiteren fünf-sechs Monaten sporadischer Weiterführung, sobald Dinge auftauchten, die von Bedeutung sein konnten – kam man zu dem Schluß, daß die Akte vorläufig abgelegt werden solle. Verfahren dieser Art werden nie eingestellt. Jedenfalls nicht, bevor die Verjährungsfrist in Kraft tritt.«
»Es fügte sich also in die Reihe der ungeklärten Mordfälle?«
»Ja, aber du wirst es selten in solchen Zusammenhängen behandelt finden – weder in der Tages- noch in der Wochenpresse. Harald Wulff war ganz einfach kein Opfer, das einem sonderlich leidtat.«
»Und die Hinterbliebene, Elise Blom?«
Er zuckte mit den Schultern. »Tja, also – es gibt immer solche, die einem leidtun können. Aber aus den Verhören ging hervor, daß sie seine Kriegsvergangenheit kannte, sodaß … tja, vielleicht ist nicht jede Wahl eines Lebensgefährten gleichermaßen unproblematisch.«
»Wo war sie an dem Abend, als Harald Wulff ermordet wurde?«
»Beim Bingo.« Er fügte rasch hinzu: »Und ich kann dir versichern, daß auch bei ihnen zuhause gründliche technische Untersuchungen durchgeführt wurden. In dem Haus, wo sie und Wulff gewohnt hatten. Es gab nichts, was darauf hindeutete, daß sie irgendetwas mit dem Mord zu tun gehabt hätte.«
»Na dann«, sagte ich und machte eine resignierte Armbewegung.
»Und, ehrlich gesagt, Veum, ich kann nicht sehen, daß etwas von dem, was ich bis jetzt herausgefunden habe – weder über Wulff, noch über den Pfau-Brand oder Stauer-Johan – auch nur das Geringste mit dem Unfall Hjalmar Nymarks gestern nachmittag zu tun hätte.«
»Mit anderen Worten?«
»Mit anderen Worten, wir gehen von der Hypothese aus, daß dies einer der gewöhnlichen Fälle von Fahrerflucht ist, die von Zeit zu Zeit vorkommen. Das größte Verbrechen war, daß derjenige, der ihn anfuhr, nicht anhielt, sondern weiterfuhr. Vielleicht war es ein Promillefahrer, vielleicht jemand, der es einfach eilig hatte.«
»Aber der Wagen war doch gestohlen, oder?«
»Höchstwahrscheinlich. Aber wir überprüfen selbstverständlich die Angestellten des Sportgeschäfts gründlich.« Er seufzte. »All diese Ampeln – die sind nicht nur vom Guten, und diese Seitenstraße da, mitten zwischen zwei Kreuzungen, ist eine gefährliche Strecke. Die Autofahrer kommen über die erste Kreuzung und sehen die grüne Ampel an der nächsten. Also geben sie Vollgas, schließen die Augen und hoffen, daß alles gutgeht. Nur ab und zu kommt ihnen was in die Quere.«
»Und in diesem Falle war das Hjalmar Nymark.«
»Ja.«
»Tja.« Ich zuckte mit den Schultern. »Schließlich ist das euer Job. Sag mir nur …«
»Ja?«
»Ist heute jemand hier, der mit dem Fall Pfau zu tun gehabt hat?«
»Dankert Muus ist der einzige. Und der war damals nur ein junger Spucht.«
»Dankert Muus?« wiederholte ich.
»Ja. Ihr kennt euch ja von früher, oder?«
Ich stand auf. Hamre begann, vor sich in den Papieren aufzuräumen.
»Also, Veum. Sollten weitere Leichen auftauchen …«
»Leichen?« sagte ich.
Er lächelte entwaffnend. »Nur so ein Spruch. Tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe.«
Ich fühlte nach. »Nein. Heute nicht. Ich werde noch eine Weile im Katalog stehen.« Ich nickte kurz und verließ ihn, hinter seinem Schreibtisch sitzend, mit dem Tageslicht im Rücken.

10

Die Tür zum Büro nebenan stand einen Spalt offen. Ich sah Dankert Muus hinter seinem Schreibtisch sitzen. Er saß in einen Stapel Papiere vertieft, die der Dicke nach zu urteilen die Partitur des Einzugsmarsches der Bürokratie hätten sein können. Nur sah er nicht sonderlich musikalisch aus.

Dankert Muus saß in Hemdsärmeln. Die braune Jacke hing hinter ihm über dem Stuhlrücken und der Schlipsknoten war lose und unpolizeilich. Das Ganze hätte wirklich entspannt ausgesehen, wenn nicht der verbeulte, graue Hut gewesen wäre, den ihm jemand irgendwann einmal über den Kopf gestülpt hatte, und den er höchstwahrscheinlich nicht einmal in der Badewanne abnahm. Er war zu einem natürlichen Körperteil geworden. Ich hatte ihn jedenfalls nie ohne ihn gesehen.

Er mußte gespürt haben, daß ihn jemand ansah, denn plötzlich begegnete ich seinen Augen unter der Hutkrempe. Es war ein Gefühl, als träfe ein Schneidbrenner mich zwischen die Augen, und im selben Moment schnauzte er: »Was zum Teufel stehst du da und glotzt?«

Ich öffnete die Tür ganz und tat, als hätte ich vor, hineinzukommen.
»Ich fand plötzlich, daß ich lange nicht hier war, und …«
Er zeigte mit dem Finger vor meine Füße. »Nicht einen Zentimeter über diese Schwelle, Veum! Ich warne dich. Ich habe dir ein für allemal gesagt: ich will dich nicht sehen, ich will dich nicht hören, ich will nicht mit dir reden. Nicht ein einziges Wort.« Plötzlich wurde sein Ton butterweich. »Nicht bevor du fein artig auf der anderen Seite meines Schreibtisches platznimmst und ich dir eine erstklassige Anklage verpassen kann, mit Schleife drum und Sonntagsschulsternchen drauf. Verstanden?«
»Meldung erhalten«, sagte ich und lehnte mich leicht gegen den Türrahmen. Dankert Muus sah mich böse an und ich sagte: »Erinnerst du was von dem Brand der Pfau-Fabrik, Muus?«
Ich sah, wie die Frage hinter seinen Stirnbrettern einsank und konnte förmlich sehen, wie sie in dem großen Echoraum dort drinnen hin und her prallten. »Pfau?« wiederholte er langsam. Dann kam er zur Besinnung. »Ich mach dich zum Pfau, du aufgeplusterter Papagei! Ich werd den Teufel tun und auf Fragen drittklassiger Amateure antworten! Hast du gehört, was ich gesagt habe?«
Er erhob sich drohend hinter seinem Schreibtisch und ich zog mich geschwind aus der Türöffnung zurück. Das bleichgraue Gesicht mit den blassen Augen, den breiten Kiefern und dem mausfarbenen Haar unter dem beuligen Hut war nicht eben schön, und es wurde auch nicht besser, als er sich um den Tisch herumbewegte und auf mich zukam. Aber er begnügte sich mit einem irritierten Grunzen, bevor er die Tür mit einem Knall vor mir zutrat.
Ich stand da und starrte auf sein Türschild. Oberwachtmeister Dankert Muus. Weiße Buchstaben auf blaugrauem Grund. Das sah fast ebenso einladend aus wie er selbst.
Auch die nächste Tür, zu der ich kam, stand halb offen. Es war der Tag der offenen Türen auf der Polizeiwache. Das nächste war wohl, daß sie zu einer Besichtigung einluden.
Vegard Vadheim stand vor seinem Bücherregal und blätterte in einem großen, roten Gesetzbuch. Er war mager, dunkelhaarig und gebeugt, mit ein paar grauen Locken hinter den Ohren. Früher einmal war er als Langstreckenläufer Mitglied der norwegischen Olympiamannschaft gewesen; sein internationaler Höhepunkt war das 10000-Meter-Finale in Melbourne 1956 gewesen. Einige Jahre später hatte er ein paar Gedichtsammlungen herausgegeben. Wir waren niemals direkt auf Kollisionskurs gewesen, und ich war tatsächlich in der Lage, eine annähernd gebildete Unterhaltung mit ihm zu führen, jedenfalls gemessen an dem Maßstab, mit dem einige andere in diesem Haus operierten. »Hallo«, sagte ich und er sah auf.
Die dunklen Augen sahen mich gedankenvoll an. Vegard Vadheim sah immer nachdenklich aus. Obwohl es zwanzig Jahre her war, daß er zuletzt etwas veröffentlicht hatte, bekam ich immer das Gefühl, als grübele er über irgendeine Strophe nach, als sei er ständig auf der Suche nach dem perfekten Wort, der einzig richtigen Formulierung. Er war ein Dichter von Natur, aber die Erfahrung sagte mir, daß er auch in höchstem Grade Realist sein konnte. Ich fragte: »Wann bist du nach Bergen gekommen, Vadheim?«
Er sah mich verwundert an. »Wann ich nach Bergen gekommen bin? Hat es dich zur Journalistik verschlagen, Veum?«
»Noch nicht. Es geht um Hjalmar Nymark.«
Sofort wurde er ernst. »Ja, ich habe von dem Unfall gehört. Häßliche Sache. Aber er soll ja wohl durchkommen, oder?«
»Ja. Hör zu …«
Er sah mich interessiert an. »Ich rieche die Lunte, Veum. Du meinst, es geschah vorsätzlich?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Aber Nymark hatte so viel zu erzählen. Viel Ballast.«
Er strich die Hand durch das Haar. »Komm erstmal rein, Veum« Er legte das Buch aus der Hand und setzte sich auf die Kante des Schreibtisches. Er zeigte auf einen freien Stuhl, aber ich blieb stehen und lehnte mich gegen die Wand.
»Kanntest du Hjalmar Nymark?« fragte ich.
»Ohja. Wir arbeiteten zusammen, bevor er ausschied. Später sah ich ihn nur sporadisch. Es ist selten, daß die Pensionierten hier vorbeikommen, Veum. Wir haben sowieso schon viel zuviel zu tun. Und das wissen sie.«
»Gibt es denn immer noch nicht genug von euch?«
»Nein«, sagte er kurz. »Ich kam nach Bergen Anfang der 60er Jahre. Hjalmar Nymark war viele Jahre lang einer meiner nächsten Mitarbeiter. Er hat mir vieles beigebracht.«
»Soll das mit anderen Worten heißen, daß … daß du … sag mal, war Hjalmar Nymark ein guter Polizist?«
Vegard Vadheim sah mich säuerlich an. »Ein guter Polizist? Es fragt sich, wie du den Begriff definierst. Möglicherweise haben wir da zwei unterschiedliche Auffassungen. Jedenfalls herrscht hier im Hause darüber große Uneinigkeit. Aber du sollst eine Antwort haben. Ja, meiner Meinung nach war Hjalmar Nymark ein sehr guter Polizist. Ich habe gelernt, mich auf seine Einschätzungen zu verlassen. Er besaß große Menschenkenntnis, und er war immer auf der Seite der Schwächeren, wenn du verstehst. Allzu viele von uns gehen nur nach den Paragraphen, aber der Ausgangspunkt muß der Mensch sein, den du triffst, Veum. Niemand ist unfehlbar. Auch Polizisten nicht. Und nicht alle Paragraphen sind notwendigerweise ewige Wahrheiten.«
»Hast du Hjalmar Nymark gut gekannt?«
»So gut, wie man Kollegen kennt, ohne persönlich befreundet zu sein. Er war in vieler Hinsicht ein reservierter Typ. Lebte für sich allein, hatte wenig Freunde, keine Familie. Ich glaube, er muß ein verdammt einsames Leben gelebt haben, aber er wollte es so. Ein paarmal aßen wir Mittag zusammen, wir luden ihn zu uns nach Hause ein, aber … Wir schätzten einander, während der Arbeitszeit. Sonst sahen wir einander selten.«
»Als du ihn kanntest, war er da auch schon mit ein paar alten Fällen beschäftigt?«
»Woran denkst du?«
»An Sachen, die während des Krieges passiert sind. Einen Denunzianten – einen Mörder, den sie die Giftratte nannten, an einen Brand 1953 in einer Farbenfabrik, die Pfau hieß. Fünfzehn Menschen kamen dabei um. An einen Mann, der verschwand – obwohl, das war später – 1971. Und an einen Mord, auch der 1971.«
»Ich finde, du bringst die Karten durcheinander, Veum. Was das erste angeht, wonach du fragtest: Er erzählte einiges vom Krieg. Schließlich hatte er eine sehr zentrale Position innerhalb der lokalen Widerstandsarbeit. Das war an und für sich ganz interessant, aber du weißt, wie das ist. Alle haben sie das eine oder andere vom Krieg zu erzählen. Nach und nach wird es einfach so, daß du auf Details nicht mehr achtest. Aber ich erinnere den Namen. Und ich erinnere mich sogar an den Mord, 1971, von dem du eben wahrscheinlich sprachst. Ein Mann wurde getötet, von dem einige, unter ihnen Hjalmar Nymark, glaubten, er sei mit dieser ›Giftratte‹ identisch, stimmt’s?«
Ich nickte. »Genau. Der Fall wurde nie aufgeklärt.«
»Nein. Das stimmt. Das war eine brutale Geschichte, aber in vieler Hinsicht typisch. Es war eine Hinrichtung, wie sie in der Unterwelt gar nicht selten vorkommt. Ein Spitzel wird auf diese Weise hingerichtet. Ein Rauschgifthändler, der für die entgegengenommene Ware nicht zahlen kann. Und vielleicht kann es auch alten Nazis passieren. Das ist keineswegs unwahrscheinlich.«
»Aber was ist dann mit diesem Verschwundenen?«
»Wer war das?«
»Einer, der Stauer-Johan genannt wurde, und der ungefähr zur gleichen Zeit verschwand. Einer, der den gleichen körperlichen Defekt hatte, wie dieser Harald Wulff, die Giftratte. Und der danach nie wieder aufgetaucht ist.«
»An den Fall erinnere ich mich nicht.«
»Nein. Das hat sicher was mit den Prioritäten zu tun. Stauer kommen und gehen. Mit Reedern ist das anders.«
Er sah mich betrübt an. »Tut mir leid, ich weiß nichts davon.«
»Der Brand 1953. Hjalmar Nymark meinte, daß eben jener Harald Wulff etwas damit zu tun gehabt haben könnte. Er arbeitete als Bürobote dort. Daß es also kein tragisches Unglück war, sondern etwas weitaus ernsteres; ein Verbrechen. Und diese Fälle beschäftigten ihn noch immer. Sogar noch am Tag, bevor er überfahren wurde, ja sogar am selben Tag, sprach er davon. Er hatte sie nicht vergessen. Es waren fast dreißig Jahre seit dem Pfau-Brand und exakt zehn Jahre seit dem Verschwinden und dem ungeklärten Mord, aber er … Ich weiß nicht, aber ich habe fast das Gefühl, daß er immer noch mit Nachforschungen beschäftigt war. Und dann wurde er überfahren. Im Grunde war es ein Wunder, daß er überlebte. Siehst du denn nicht … den möglichen Zusammenhang?«
Vegard Vadheim sah mich lange an. »Es hört sich nicht sonderlich wahrscheinlich an, aber … doch, ich kann den möglichen Zusammenhang sehen. Aber …« Er machte eine ausladende Armbewegung.
»Warum kommst du mit all dem zu mir? Hamre hat doch den Fall, und ich kann dir versichern, Veum – Hamre ist ein hervorragender Kerl. Wenn da was dran ist, wird er es herausfinden. Ich …« Er streckte die Hand nach dem Telefon aus.
»Ich komme gerade von ihm. Er ist nicht besonders interessiert. Du kannst ja mit ihm darüber reden. Und …«
Die Tür ging auf und eine Frau kam herein mit einem Stapel Papiere in der Hand. »Hier ist es. Ich glaube ich hab es jetzt.« Sie blieb an der Tür stehen, als sie mich bemerkte. »Oh, Entschuldigung – ich …«
Sie war Anfang dreißig, langhaarig und blond, mit einer großen, leicht krummen Nase und einem vorsichtigen Lächeln, das verblüffend schnell richtig munter wurde. Es blitzte in ihren Augen und sie streckte mir eine schmale Hand entgegen. »Hallo. Veum, nicht wahr?«
Ich räusperte mich. »Doch, ja, jedenfalls nicht Dr. Livingstone. Aber …«
Sie lachte leicht. »Nein, wir sind uns nicht begegnet. Aber ich habe dich einmal beschattet. In einem grünen Mazda. Eva Jensen heiße ich.«
»Ach sooo – damals. Naja, dann …«
»Hab ich gestört?«
»Nein, ich wollte gerade gehen.«
Vegard Vadheim war von der Schreibtischkante heruntergehüpft und stand nun mit einem halben Lächeln um den Mund da. »Trainierst du eigentlich noch, Veum?« Zu Eva Jensen sagte er: »Veum und ich haben uns ein paarmal gegenseitig ganz schön aus der Puste gebracht, als er beim Jugendamt arbeitete und für das Rathaus lief!«
»Ich laufe recht viel«, sagte ich. »Wenn der Sommer gut ist und die Seele im Gleichgewicht … Vielleicht sehen wir uns beim Bergen-Marathon im Herbst?«
»Tja, vielleicht, Veum, vielleicht.«
»Also dann – tschüß!« Ich nickte den beiden zu. Eva Jensen war in blau gekleidet: blaue Hemdbluse und blauer Kordrock. Ihr Lächeln hing noch bis hinaus auf die Straße an mir. Vor ein paar Jahren hätte ich mich vielleicht verliebt. Aber heute nicht mehr. Ich war eine Ruine, eine verlassene Festung, ein längst gepflügter Acker. So fühlte ich mich jedenfalls, und so hatte ich mich seit dem letzten November gefühlt.

Manchmal, wenn ich Polizisten wie Hamre, Muus und Vadheim traf, dienstlich traf, passierte es, daß ich mich dabei ertappte, mir vorzustellen, wie es ihnen wohl privat ging.

Jakob E. Hamre hatte sicher ein geordnetes Privatleben. Ich ging davon aus, daß er eine nette Frau hatte, die ihm gesundes Brot backte und zwei kleine, rotbäckige Kinder, daß er nachmittags mit dem kleinsten auf den Spielplatz und abends zur Elternversammlung an die Schule des älteren ging; daß er bei einer Tasse Kaffee mit den Nachbarn über Fußball und Politik diskutierte, sonntags Touren machte in den Bergen um die Stadt, ein oder zweimal im Monat mit seiner Frau ins Kino oder Theater ging und es sich vielleicht sogar zwischendurch einmal leistete, sie zu einem besseren Abendessen auszuführen. Er liebte sporadisch, aber keineswegs leidenschaftslos, obwohl es mich nicht gewundert hätte, wenn er danach aufstände, um sich die Haare zu kämmen.

Dankert Muus dagegen war der Typ, der nach Hause kam und erwartete, daß alle in Habachtstellung standen und ihn willkommen hießen, das Abendessen auf dem Tisch war und die Tageszeitung fein zusammengefaltet an Papas Platz im Sofa, zwecks gemächlichen Durchlesens während des Abendkaffees. Ich nahm an, daß er den Abend vor dem Fernsehschirm verbrachte, die Füße auf dem Tisch und eine halbe Flasche Pils in Reichweite, während er brummend die Nachrichten des Tages kommentierte, den Wetterbericht für den folgenden Tag oder die abendliche Sendung des Fernsehtheaters. Mit dem Hut auf dem Kopf und grauen Bartstoppeln erlebte er seine leidenschaftlichsten Augenblicke, wenn auf dem Bildschirm ein Fußballspiel lief.

Dem schmerzlichen Flackern in seinen Augen nach zu urteilen, nahm ich an, daß Vegard Vadheim zu denen gehörte, die ein problematisches Liebesleben führten. Aus irgendeinem Grund sah ich ihn immer in einer schummerigen Küche vor mir, an einem Tisch, auf dem für zwei gedeckt war, mit Rotwein in den Gläsern. Ihm gegenüber saß eine Frau mit langen blonden Haaren und sensiblen Zügen. Sie saßen über den Tisch gebeugt und sprachen über ernste Dinge. Ab und zu war das Bild anders: sie war aufgestanden, starrte aus dem Fenster, in das Herbstdunkel hinaus, während er sie am Handgelenk hielt; auf dem nächsten Bild war sie auf dem Weg durch die Tür, und er saß allein am Tisch und sah ihr traurig nach. Ich konnte ihn vor mir sehen, wie er vor seinem Bett stand, während er seinen Koffer packte und die Kleidungsstücke fein säuberlich hineinlegte, die letzten Exemplare der zwei Gedichtsammlungen hervorholte, die er geschrieben hatte, ein paar Sportmedaillen dazuschmiß, ins Kinderzimmer ging und eine Weile in der Türöffnung stehenblieb, bevor er hinging und den schlafenden Kindern über das Haar strich. Und ich konnte ihn vor mir sehen, wie er schleppend die schmale Treppe in einem dunklen Haus hinunterging, nur die blonde Frau ist nicht mehr in dem Bild. Der Mann in drei Stadien.

Vielleicht war nichts von all dem richtig. Vielleicht waren es nur Phantasien. Plötzlich bist du auf dem Weg aus einem Haus und dein Kopf ist voll von Bildern.

Und Eva Jensen?

 

Sie ist ein Lächeln, das langsam erlischt.

11

Was fängt man mit sich an, wenn Juni ist und die Tage dunkel sind und der Regen wie schmutzige Scheuerlappen gegen dein Fenster klatscht, dein bester Freund im Krankenhaus liegt, die lokale Erstligamannschaft auf dem schnellsten Wege wieder abwärts in die zweite ist, deine Aquavitflasche leer und du dir eine neue nicht leisten kannst?

Ich saß in meinem Büro und versuchte aufzuschreiben, was ich von dem, was Hjalmar Nymark mir erzählt und dem, was ich nachher auf der Polizeiwache erfahren hatte, erinnern konnte.

Ich versuchte, eine Art Zeitschema aufzustellen, das schon mit den 30er Jahren begann. Ich notierte, was ich über die Unternehmungen Harald Wulffs in der Periode von 1943 bis 45 gehört hatte, falls er wirklich ›Giftratte‹ war. Ich machte einen Kreis um die Jahreszahl 1953 und schrieb die Namen auf, die ich im Zusammenhang mit dem Brand bei Pfau gespeichert hatte: Harald Wulff (noch einmal), Elise Blom, zweimal dick unterstrichen (weil sie später mit Harald Wulff zusammengezogen war), Hagbart Helle(bust), Holger Karlsen (gest. 1953) und Olai Osvold ( ›Brandstelle‹ ). An den Rand, ein wenig schräg, sodaß er auch die Kriegsjahre abdeckte, schrieb ich noch einen Namen: Konrad Fanebust. Dann übersprang ich ein paar Jahre und erreichte 1971. Dort schrieb ich: Harald Wulff – tot? StauerJohan – verschwunden? Und zum Schluß zeichnete ich einen großen, dicken Pfeil zum unteren Rand des Blattes. Dort schrieb ich: 1981 – Hjalmar Nymark überfahren.

Ich saß da und sah das Blatt an. Es erzählte mir gar nichts. Nicht mehr als was ich schon wußte. Wenn es darin ein Muster gab, dann war es gut versteckt und die Spuren waren mindestens zehn Jahre alt. Wenn es überhaupt Spuren gab.

Wenn mir jemand angeboten hätte, die berühmte Nadel im Heuhaufen zu suchen, hätte ich meine Notgroschen eher darauf gesetzt.

Ich zog meine Schreibtischlade heraus, öffnete die Büroflasche und versicherte mich, daß ich mich recht erinnerte. Die Flasche war leer.

Es gab nichts, was ich tun konnte. Jedenfalls nicht, bevor ich mit Hjalmar Nymark gesprochen hatte. Und das sollte noch eine Weile dauern.

Es dauerte eine Woche, bis sie mich zu ihm ließen. In der Zwischenzeit hatte ich am Telefon ein paarmal mit Hamre gesprochen, nur um bestätigt zu bekommen, was mir die Zeitungen – durch ihr Schweigen – berichteten: daß nichts geschehen war.

An dem Tag, an dem ich Hjalmar Nymark besuchte, kaufte ich schnell einen Strauß Maiglöckchen, eine Tüte Trauben und ein Buch über ungelöste Kriminalfälle, das ich im Antiquariat im Markvei gefunden hatte (um einen Vorwand zu haben, über irgendetwas zu reden anzufangen).

Zur Besuchszeit in ein Krankenhaus zu kommen, ist ungefähr so, wie auf eine Beerdigung zu gehen. In der Schlange von Menschen auf dem Weg auf das Krankenhausgelände, alle mit den gleichen Reliquien unter dem Arm, der Konfektschachtel oder dem Blumenbüschel, fühlst du dich wie das Mitglied einer großen, geheimnisvollen Bruderschaft: der Gesunden.

Trotzdem gibt es nicht einen Menschen, der zur Besuchszeit in ein Krankenhaus kommt, ohne sich und sei es ein noch so kleines bißchen schlecht zu fühlen, ohne einen Schmerz zu spüren, sei er auch noch so klein – im Magen, im Herzen oder vielleicht nur im Nacken. Etwas ist da. Du bist nie völlig sicher. Vielleicht kommt ein Arzt und verdreht deine Augen, weil er meint, ein ihm wohlbekanntes Symptom zu sehen.

Vielleicht legen sie dich auf ein Bett und fahren dich in den Operationssaal, ohne daß du überhaupt Konfektschachtel und Blumenbüschel hast abliefern können.

Die Station, auf der Hjalmar Nymark lag, war im dritten Stock. Draußen auf den Korridoren lagen die Patienten in Reih und Glied. Diejenigen, die das Glück gehabt hatten, einen Fensterplatz zu bekommen, konnten von dort aus auf den großen Zentralblock sehen, in den einzuziehen sich niemand leisten konnte: noch ein Monument der raffinierten Transaktionen des Ölzeitalters in diesem Land, welches allen Prognosen zufolge zu den reichsten der Welt gehörte. Am Ende des Korridors kam ich zu einem langen, schmalen Sechzehnmannsaal, der in einem kleinen, stubenähnlichen Winkel in der äußersten Ecke des Gebäudes endete. Dort trieb der Zigarettenrauch wie Meeresnebel über den Patienten, die mit Rücken und Nacken auf einem schiefen Turm von Kopfkissen aufgestapelt lagen, während sie den allerletzten Rest des abendlichen Kinderprogramms im Fernsehen verfolgten. Die meisten von ihnen sahen aus, als seien sie weit über achtzig.

Hjalmar Nymark lag ungefähr in der Mitte der linken Reihe, mit einer Kanüle in einem Arm und einer Flasche mit klarer Flüssigkeit über dem Kopf hängend. Er sah aus, als habe er zehn Kilo abgenommen. Die Haut im Gesicht war gelblich und feucht, und in seinen Augen lag eine merkwürdige Mattheit, die vorher nicht da gewesen war. Die eine Hälfte des Gesichts trug blaurote Male von den starken Prellungen, und er war an allen Ecken und Enden verpflastert und bandagiert. Er lag auf dem Rücken und starrte leer in die Luft. Beide Beine lagen im Streckverband, der Arm war um das Handgelenk herum eingegipst, und die linke Hand lag mit gespreizten Fingern da wie eine tote Krabbe.

Ich trat langsam in sein Gesichtsfeld, um ihn nicht zu erschrecken. Er sah mich an, ohne zu reagieren.

Das hier war nicht der große, kräftige Mann, den ich kennengelernt hatte, der mit der Zeitung auf den Tisch schlug, um zu unterstreichen, was er sagte und sich wie ein Unwetter erhob, wenn er fertig war. Das hier war ein fremder Vetter vom Land, ein bleicher Verwandter, ein Schatten an einem bewölkten Tag.

»Hallo, Hjalmar«, sagte ich, so leicht ich konnte.

Hjalmar Nymark sah mich an, öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Der Mann im Nachbarbett kicherte albern. Ich sah ihn an. Er hatte zwei Meter dicke Brillengläser, einen Mund

ohne Zähne und lag vom Nacken bis zur Taille in Gips. Aber er lachte sicher nicht über mich. Vielleicht freute er sich einfach des Lebens, trotz allem. Es gibt solche Menschen, beruhigenderweise. Sie werden im Himmel auf einem Orchesterplatz sitzen, während man all uns anderen einen Stehplatz auf dem Balkon zuweist.

»Erkennst du mich nicht wieder?« fragte ich umständlich. Er nickte langsam. »V- V- V..«, sagte er.
»Ich habe dir …« Es wirkte so sinnlos, dazustehen, in der

Hand die kleinen, wohlduftenden Maiglöckchen, so voller neuen, saftigen Lebens, mit dunkelgrünen, starken Blättern und winzigen, gelbgrünen Staubgefäßen, die ihren Blütenstaub vergeblich auf einen Boden verstreuen würden, der jeden Morgen mit Reinigungsmittel gewischt wurde. Es wirkte wie eine Beleidigung, diesem schlaffen Mund die kleine Tüte mit den prallen Trauben anzubieten. Das Buch legte ich nur einfach auf den Nachttisch, ohne es zu kommentieren.

Ich setzte mich auf den Stuhl, der am Bett stand, und er folgte mir mit dem Blick. Tief drinnen in den Augen war irgendetwas Wachsames, Lebendiges, aber es war weit bis dorthin, und du brauchtest eine starke Leuchte, um hinzufinden.

An diesem Abend war er nicht in der Lage zu sprechen, aber am Tag darauf begrüßte er mich mit der Andeutung eines Lächelns und wieder einen Tag später schaffte er es, meinen gesamten Namen zu sagen.

Nach einer Woche konnten wir eine vorsichtige Unterhaltung führen, aber sobald ich versuchte, sie darauf zu lenken, worüber er vor dem Unfall gesprochen hatte, verschloß sich sein Gesicht und sein Blick sperrte mich aus. Ich versuchte es noch einmal und plötzlich – in einem schnellen und unerwarteten Augenblick
– war es, als erwache ein Zipfel des alten Hjalmar Nymark in ihm wieder zum Leben. Er ballte die linke Hand so kräftig, daß die Knöchel weiß wurden und aus seinen dunklen Augen sprühten Funken. »Vergiß es, Veum!« bellte er. »Da gibt’s nichts mehr zu reden! Verstehst du? Laß tote Wölfe liegen, verstehst du?« Die Augen wirkten fast jung, so dunkel und verletzlich, wie die eines verschmähten Liebhabers. »Verstehst du?«

Der Mann im Nachbarbett lachte schallend über eine vergnügliche Szene des Stummfilms, den er ständig auf der Innenseite seiner Brillengläser sah und ich griff Hjalmar Nymarks Hand und preßte sie fest in meine, während ich nickte. Ich verstand und ich tat, als würde ich vergessen.

Später sprachen wir nie mehr davon und in Hjalmar Nymark schien eine Stagnation einzutreten. Er wurde einerseits gesünder und doch auch andererseits wieder nicht. Im Krankenhaus sagten sie, er mache fabelhafte Fortschritte, nur ich bemerkte keine großen Veränderungen.

So verging der Juni, wie nasse Fußspuren auf frischem Asphalt. Die Tage verdampften schnell und der Juli setzte ein, wie gewöhnlich.

Der Juli war grau und regnerisch in diesem Jahr. Ich verbrachte fünf Wochen auf Sotra, in der Hütte eines entfernten Verwandten, der froh war, daß jemand nach seiner Hütte sah, während er selbst seine Ferien in sehr viel sonnigeren Gefilden verbrachte. Ich hatte Hjalmar Nymark von meinen Planen erzählt, bevor ich zusagte, für den Fall, daß er meine Besuche vermissen würde, aber er sah fast erleichtert aus, als ich es sagte. Vielleicht brachte meine Anwesenheit nur eine Erinnerung an Dinge zurück, die er am liebsten vergessen wollte. Vielleicht würde es ihm besser gehen, wenn ich mich eine Weile fernhielt. Jedenfalls packte ich den Aquavit, die Angelsachen und das Joggingzeug ein, um mich für eine Zeit am äußersten Rand des Landes niederzulassen, wo das Meer wutschäumend über die wolfsgrauen kahlen Felsen hereinbrach.

Die Hütte lag auf der Spitze einer steilen Felskuppe. Eine steile Kluft führte zu einem alten Bootshaus und einem Anleger, und draußen vor der kleinen Bucht lagen ein paar verwehte Inselchen als letzte Barriere vor dem Meer.

Weit, weit draußen wurde das Meer zu Himmel, aber das sahst du nicht immer. An diesen grauen Sommertagen mit flachem Regen in der Luft und einer Sonne, die nie mehr war als eine Ahnung irgendwo hinter den Wolken, schienen Himmel und Meer miteinander zu verschmelzen und eins zu werden. Es war, als seist du in ein großes, graues Leinentuch gepackt, dessen Enden jemand sorgfältig unter den Fetzen Land geschoben hatte, auf dem du dich befandst. Die Tage zogen in beruhigender Symmetrie vorbei. Ich stand auf, wann es mir paßte, verbrachte ein paar Stunden mit Frühstück und Kaffee, zog zum nächsten Landhandel und kaufte ein, ruderte das kleine Boot des entfernten Verwandten zu den nächsten Inseln hinaus, setzte mich an einen günstigen Angelplatz, warf den Haken aus und zog – mal mehr, mal weniger – mein Mittagessen an Land.

Jeden Abend lief ich, und die Strecken wurden länger und länger. Gleichzeitig nahm mein Alkoholbedarf ab. Als die Aquavitflasche leer war, ergab es sich einfach nicht, daß ich den weiten Weg in die Stadt fuhr, um mir eine neue zu kaufen, und der Kasten Bier, den ich gekauft hatte, reichte die ganzen vier Wochen. Hier draußen war es nämlich so, daß man das Bier kastenweise kaufen mußte. So erreichen sie, oder glauben es jedenfalls, daß die Leute weniger trinken. In der letzten Woche trank ich nur noch Milch, Kaffee, Tee und Wasser. Langsam fühlte ich die Kraft in meinen Körper zurückkehren. Es war ein langes und aufreibendes Jahr gewesen, mit regelmäßigen Reisen hinab auf den Grund meiner Büroflaschen.

Ich verbrachte die Ferien allein. Thomas hatte in die USA reisen dürfen, zusammen mit Beate und ihrem neuen Mann, der ein Stipendium bekommen hatte, das einen zweimonatigen Aufenthalt dort drüben deckte. Ich nannte ihn immer noch ›Beates neuen Mann‹, obwohl er mittlerweile länger mit ihr verheiratet war als ich. Ich bekam im Laufe der Ferien zwei Postkarten von Thomas. Die eine war aus Disneyland, wo er schrieb, daß er noch nie vorher so viel Spaß gehabt hätte. Die andere war ein authentisches Foto der Leichen von Tim Evans, Bob Dalton, Grat Dalton und Texas Jack nach der legendären Schießerei in Coffeyville, Kansas am 5. Oktober 1892, und auf der Rückseite der Karte konnte ich lesen, daß mein Sohn diese Reise nicht vergessen würde, so lange er lebte.

Der entfernte Verwandte schickte mir eine Karte aus den sonnigen Gefilden, um mir zu erzählen, daß der Schnaps billiger, die Frauen williger seien und die Sonne den ganzen Tag schiene. Sonst hörte ich von niemandem.

Abends saß ich an dem großen Stubenfenster, ein Glas Bier oder einen kleinen Aquavit in der Hand (so lange noch welcher da war), und las Bücher, die so dick waren, daß man wirklich Sommerferien haben mußte, um durchzukommen. Oder ich saß nur einfach da und starrte ins Weite, an den kleinen Inseln vorbei und auf das scheinbar endlose Meer dort draußen, so wie Menschen immer zum Horizont starren, als gäbe es dort eine heimliche Öffnung zu einer neuen und besseren Welt. Ab und zu kreuzte ein großes Schiff ein Stück des Meeres dort draußen und unten im Süden sandte ein Leuchtfeuer seine regelmäßigen Botschaften in die Umgebung: blink – blink, blink – blink …

In der Nachbarhütte wohnte eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Der Vater war groß und schlaksig und trug eine Brille. Die Mutter war eine von dieser grazilen, durchsichtigen Blondinen, die fast unsichtbar werden, wenn sie nur im Bikini daherkommen. Abends konnte ich sie sehen, im Licht ihrer Petroleumlampe. Wenn die Kinder im Bett waren, saßen sie eng beieinander und blickten auf dasselbe Meer hinaus, während sie plauderten. Sie sahen wundersam zufrieden aus. Am Tage kamen sie in farbensprühendem Regenzeug heraus, und wenn wir einander auf dem Pfad zur Hauptstraße begegneten, lächelten sie freundlich, nickten und sagten, hallo’ und wenn sie sich an manchen Tagen so richtig langweilten, kamen die Kinder herüber und wechselten ein paar Worte mit dem Einsiedler auf der Felskuppe.

An drei Tagen schien die Sonne. Dann saßen sie draußen auf der Terrasse vor der Hütte, bis die Sonne unterging, und die Kinder durften lange aufbleiben. Sie hatten dünne Drinks in ihren Gläsern, und wenn es anfing, kühl zu werden, zogen sie sich füllige Strickjacken über und rückten enger zusammen. Ich konnte ihre hellen Stimmen hören, wo ich saß, unten auf ein paar flachen Steinen vor der Hütte, mit einer warmen Kaffeetasse zwischen den Fingern und einer alten Krebsreuse zu meinen Füßen. Jeder von seinem Aussichtspunkt sahen wir die Sonne, rund und rot, wie einen großen Ballon langsam auf den Horizont zusinken, so rund, daß du fast darauf wartetest, daß sie von dort wieder hochprallte. Aber sie sank in die Tiefe und die Dunkelheit trieb langsam heran, wie eine schwarze Pest aus dem Meer.

Aber die Sonne schien nur an wenigen Abenden. In den Zeitungen stand, es sei der feuchteste Sommer seit Anfang der 20er Jahre und viele behaupteten, wir seien auf dem Weg in eine neue Eiszeit. Die Optimisten konnten uns damit trösten, daß es sich doch wohl kaum um eine neue Eiszeit, sondern nur um eine Periode mit feuchteren Sommern und niedrigeren Durchschnittstemperaturen handelte, die nicht länger als 20-30 Jahre dauern würde. Mit anderen Worten konnten diejenigen von uns, die bis dahin bei Gesundheit geblieben waren, der Zukunft froh entgegensehen.

An einigen Abenden, während der Regen wie Talg auf die stille Wasserfläche tropfte, ruderte ich herum und fischte Krebse aus dunklen Reusen. An diesen Abenden saß ich und aß, bis der Tag graute: solche endlosen, friedvollen Krebsmahlzeiten, wie man sie nur erleben kann, wenn man allein ist.

Dann begannen die Tage zu schrumpfen. Die Abende wurden dunkler, und es war Kälte in der Luft wenn du morgens hinauskamst. Ich blieb ein paar Tage über die Zeit, und es war schon seit acht-neun Tagen August, als ich die Hütte aufräumte, die Fensterläden vorklappte und sorgfältig abschloß.

Ich überquerte die Sotra-Brücke, den Südwestwind in der Seite. Im Norden lag Askøy, gut verpackt in schmutziggrauer Watte, um während der Fracht nicht beschädigt zu werden. Als ich mich der Stadt näherte, hingen die Nebelwolken lauernd die Berghänge hinab, wie um die allerletzten Reste des Sommers zu verschlingen, der kaum einer gewesen war.

Ich parkte den Wagen auf dem Tårnplass und machte einen Abstecher ins Büro am Strandkai. Es hatte sich Post angesammelt und viele hatten im Laufe der Ferien die Postboten damit in Atem gehalten, Reklame zu verschicken. Es war nichts Persönlicheres im Postkasten als die Mahnung für eine Lebensversicherungsrate, die zu bezahlen ich schon seit langem für sinnlos befunden hatte. Ich ging hinauf ins Büro und schloß auf. Der Staub hatte sich zusammengeballt wie die Tiefs vor der norwegischen Küste. Sonst war alles, wie es sein sollte. Die Flasche in der Schreibtischlade war leer wie ein Wahlversprechen, und die einzige Veränderung im Stadtbild vor meinen Fenstern war das neue Hotel, das draußen auf Bryggen langsam Form annahm und der anderen Seite von Vågen ein neues und schöneres Aussehen verschaffte, als würden die ausgeschlagenen Zähne in einem Mund endlich durch neue ersetzt.

Als ich das Krankenhaus anrief und nach Hjalmar Nymark fragte, erfuhr ich, daß er entlassen worden war.

12

»Entlassen?«, sagte ich, unnötig laut vielleicht. »Sie meinen wohl überführt. In ein Pflegeheim oder sowas.«

»Einen Augenblick, ich werde Sie …«, sagte die Stimme und unterbrach sich selbst.
Eine neue Stimme übernahm. Sie war weitaus mündiger, und ich sah eine dieser großen, kräftigen Oberschwestern vor mir, die dir eine mütterliche Strafpredigt halten, sobald du dich auch nur im Schlaf umdrehst, ohne vorher zu klingeln und um Erlaubnis zu bitten. »Hier ist Pedersen, was wünschen Sie bitte?«
»Hören Sie zu, Pedersen, mein Name ist Veum und ich würde gern meinen guten Freund Hjalmar Nymark besuchen, der …«
»Er ist entlassen. Er wurde heute entlassen.«
»Aber er – meinen Sie wirklich entlassen? Nach Hause?«
»Er fuhr nach Hause, wenn Sie das meinen, ja.«
»Aber konnte er denn gehen? Als ich ihn das letzte …«
»Er benutzte Krücken, aber er war durchaus beweglich.«
»Durchaus beweglich? Aber der Mann wohnt im dritten Stock, in einem Altbau, ohne Fahrstuhl. Wie, glauben Sie …«
»Tut mir leid, Veem …«
»Veum.«
»Das ist selbstverständlich bedauerlich, aber mit der Kapazität hier oben ist es jetzt zur Ferienzeit katastrophal bestellt. Wir schicken die Leute direkt aus dem Operationssaal mit dem Taxi nach Hause, wenn es irgendwie zu verantworten ist.« Ich hörte sie in irgendwelchen Papieren blättern. »Und außerdem kann ich Sie beruhigen, wir haben das Sozialamt benachrichtigt, und man hat ihm eine Haushaltshilfe vermittelt, für täglich, also … Es gibt Leute, die schlechter dastehen als er. Sind Sie vielleicht ein Verwandter, dann können Sie doch …«
»Ich werde ihn besuchen, ja. Und zwar sofort.«
»Also, war sonst noch etwas, Veem?«
»Nein, das …«
»Dann auf Wiedersehen.«
»Wiederhörn.«
Ich legte vorsichtig den Hörer auf, damit sie nicht zurückrief und mich ausschimpfte. Dann machte ich mich auf den Weg.
Der schmale, graue Altbau, in dem Hjalmar Nymark wohnte, sah nicht sonderlich einladend aus. Ich stapfte die dunkle Treppe hinauf. Für einen siebzigjährigen Mann, der auf Krücken ging, konnte es nicht leicht sein, hier heraufzukommen. Wenn es einmal brannte, war er nicht viel mehr wert als eine dreißig Jahre alte Ermittlungsakte im Polizeiarchiv.
Im zweiten Stock war die Glühbirne durchgebrannt. Als ich mich zum dritten Stock hinauftastete, bemerkte ich, daß dort jemand war. Ich blieb stehen, das eine Bein eine Treppenstufe über dem anderen. Die Augen, die meinen begegneten, waren aggressiv und bekümmert zugleich.
Dort oben stand eine Frau. Sie war um die vierzig Jahre alt, eine dieser breitgewachsenen, fast viereckigen Frauen, die sich mit breiter Hüftpartie, kurzem Pony und einer kaum merkbaren Andeutung von Unterbiß durch das Dasein schieben. Sie erinnerte schwach an einen orientalischen Freistilringer, aber es war nichts Untertäniges an der Miene, mit der sie mich empfing. Die Stimme war kraftvoll, der Dialekt bergensisch.
»Was wollen Sie?«
»Ich möchte zu Hjalmar Nymark«, antwortete ich und stieg vorsichtig höher.
»Sind Sie ein Verwandter?« kläffte sie. »Wenn sie glauben, ich fände’s sonderlich lustig … Mir wurde gesagt, die Tür stünde offen, sodaß ich einfach hineingehen könnte. Der Patient soll bettlägerig sein oder jedenfalls äußerst schlecht auf den Beinen.«
Ich war jetzt oben bei ihr angekommen. Aus der Nähe wirkte sie etwas weniger imponierend, weil sie zehn bis fünfzehn Zentimeter kleiner war als ich. Die Lippen waren stramm und schmal, die Augen scharf, und sie duftete schwach nach Eukalyptus-Bonbons. Sie trug einen graubraunen, knielangen Mantel, doppelt geknöpft und mit breiten Aufschlägen an den Taschen. Die portweinrote Handtasche hatte lange Riemen, was sie zu einer ausgezeichneten Handwaffe machte. Also hielt ich ein Auge auf sie.
Ich fragte vorsichtig: »Sind Sie die Haushaltshilfe?«
»Ja, und ich hab nicht ewig Zeit. Ich habe noch zwei Patienten und einer davon ist eine Frau von neunzig, die ist blind und teilweise behindert und braucht wirklich jeden lag Hilfe beim Essenmachen. Und auf dem Amt haben sie gesagt …«
»Was ist ihr Auftrag?«
»Dieser Hjalmar Nymark – er ist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden, und sie haben mir gesagt, auf dem Amt …« Sie musterte mich mißtrauisch. »Daß er überhaupt keine Angehörigen hätte und deshalb sollte ich ihn täglich besuchen – außer an den Wochenenden natürlich. Dann haben wir nämlich frei.«
»Und was passiert an den Wochenenden?«
»Gar nichts. Wenn sie keine Familie haben, oder sonst jemanden.«
»Und die alte, blinde Dame?«
»Nee, also, da kommt die Tochter.«
»Ach so, da kommt die Tochter.«
»Ja, die wohnt nämlich auf Stord.«
»Und Pflegeheimplätze, sowas gibt’s nicht?«
Sie schüttelte stumm den Kopf. Dann glitt ihr Blick zur Seite, in Richtung Tür. Sie war braun gestrichen, und hinter den schmalen Scheiben sahen wir einen Schimmer der Beleuchtung aus Hjalmar Nymarks Flur. In der Mitte der Tür war eine dieser altmodischen Klingeln, wie es sie in einigen Gegenden Bergens immer noch gibt. Man dreht einen Handgriff herum und auf der Innenseite klingelt es: ein kratzender, heiserer Laut.
Die Haushaltshilfe sagte: »Der Mann da drinnen kann kaum gehen. Deshalb sollten die Leute vom Krankenhaus die Tür offen stehen lassen. Ich sollte einfach reingehen. Aber sie ist zu. Und ich hab keine Zeit.«
Sie machte eine Bewegung zum Handgelenk und der Armbanduhr.
Ich sah zur Tür hin. Wäre man entschlossen genug, würde es zehn Sekunden dauern, sie zu öffnen. »Sie haben es mit der Klingel versucht?«
»Natürlich. Und ich habe geklopft. Ich war auch eine Etage tiefer, aber da war niemand zuhause.« Sie sah mich hilflos an. »Wenn Sie doch bloß ein Verwandter wären, dann …«
Ich zuckte mit den Schultern. »Was dann? Hier gibt es nur eins zu tun. Wir brechen ein.«
Sie riß die Augen auf. »Aber – Vielleicht kann ein Hausmeister …«
Ich schob sie behutsam zur Seite und ging einen Schritt auf die Tür zu. Ich warf einen Blick auf das Schloß, dann hob ich das rechte Bein und trat flach gegen die Tür, direkt neben dem Schlüsselloch. Es knirschte im Rahmen und Putz rieselte von der Decke. Die Haushaltshilfe sah bekümmert nach oben und hielt sich am Treppengeländer fest. Die Tür ging nicht auf.
Ich trat noch einmal zu. Dieses Mal rieselte deutlich mehr Putz von der Decke. Er bedeckte uns beide wie grauweißer Puder und nun war es an mir, nach oben zu sehen. Wenn ich so weitermachte, stünden wir bald unter freiem Himmel. Die Tür war nach wie vor zu.
»Also gut«, sagte ich und machte kurzen Prozeß.
Ein erneuter Tritt zerschlug die Scheibe neben dem Schloß. Mit der Schuhspitze stieß ich die spitzesten Glasstücke los, streckte die Hand hindurch, griff um den Türknauf und öffnete die Tür mit einem kleinen Schnappen des Schlosses. Ich trat zur Seite und deutete der Haushaltshilfe an, vielleicht als erste hineinzugehen, da sie doch die Bürokratie auf ihrer Seite hatte. Sie starrte ängstlich auf die Türöffnung und winkte mich vor sich.
Ich ging hinein und hörte ihre hastigen Schritte direkt hinter mir. Sie wollte zwar nicht vorgehen, aber auch auf keinen Fall etwas verpassen.
Die Wohnung war vollkommen still, der Flur stumm und finster. Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Es war leer. »Hjalmar«, sagte ich.
Niemand antwortete.
Die Haushaltshilfe atmete schwer hinter mir. »Ist er …«
Ich durchquerte das Wohnzimmer, ging auf die hellgrüne Tür zu, klopfte an und öffnete sie, ehe jemand antworten konnte.
Es ist schon merkwürdig. Wenn man solche Türen öffnet, weiß man fast immer schon, was man vorfinden wird. Im selben Augenblick, in dem man sie öffnet, weiß man es. Als hätte der Tod seine ganz eigene, starke Ausstrahlung.
Hjalmar Nymark lag im Bett. Die Bettdecke war halb zur Seite geworfen. Das Kopfkissen lag auf dem Boden. Der eine Arm hing schlaff vom Bett herunter, ohne ganz zum Boden zu reichen. Die neuen Krücken lehnten am Nachttisch. Auf dem Nachttisch stand ein Glas Wasser. Das Glas war halb leer.
Das Gesicht verriet nichts. Es war fremd und anders, wie eine zum Teil geschmolzene Wachsmaske. Ein süßlicher, widerlich fader Geruch hing im Raum und es war unmöglich, die Staubschicht auf den Möbeln zu übersehen. Hjalmar Nymark starb in einer Umgebung, die zum Stil des Lebens paßte, das er geführt hatte, umgeben von Leere, allein mit sich selbst.
Ich wandte mich ab und begegnete dem Gesicht der Haushaltshilfe hinter mir. Sie sah nicht mehr ängstlich aus. Plötzlich hatte sie etwas Nüchternes und Realistisches an sich, das fast tröstlich war. Ich trat von der Tür weg ins Wohnzimmer. In den dunklen Raum hinein sagte ich:
»Ich werde wohl jemanden anrufen müssen.«

13

Ich blieb mit dem Rücken zur hellgrünen Tür stehen. Auf der Anrichte direkt vor mir standen die Bilder von Hjalmar Nymarks Eltern. Es waren hellbraune Fotografien aus der Zeit um die Jahrhundertwende und mir kam plötzlich der Gedanke, daß Hjalmar Nymark drei Generationen in sich getragen hatte und seine Eltern der vierten angehörten. Sie waren wahrscheinlich irgendwann in den 1870ern geboren, ungefähr zur Zeit des deutsch-französischen Krieges, der Pariser Kommune und des Durchbruchs des Parlamentarismus. Als der erste Weltkrieg ausbrach, waren sie älter, als ich es jetzt war. Bergen war eine autofreie Stadt, auf Fløyen sprossen die Baumsetzlinge und wenn du aufs Land wolltest, fuhrst du einfach auf die andere Seite des Store Lungegårdsvann, mit dem Boot.

Ich sah mir Hjalmar Nymarks Vater an. Von ihm hatte er die Gesichtsform: vierkantig und massiv, mit einer kräftigen Kinnpartie. Das Haar war lockig und stand gerade von der breiten Stirn ab. Der Gesichtsausdruck war feierlich, wie bei allen Menschen, die sich zu jener Zeit fotografieren ließen.

Die Mutter wirkte zarter. Das Gesicht wurde zum Kinn hin schmaler und über der Stirn lag eine helle Schicht blonder Locken. Die Augen wirkten scheu, und um ihren Mund lag ein nachdenklicher Zug.

Und nun lag ihr Kind im Zimmer nebenan. Es hatte sich der ständig wachsenden Schar der Vorväter angeschlossen und was übrig war, war eine leere Hülle und eine tote, inhaltlose Gesichtsmaske.

Ich sah mich um. Der Raum wirkte unbewohnt und verstaubt. Er hatte hier ein Menschenalter lang gewohnt. Nun würden neue Menschen einziehen, neuen Belag auf dem Boden ausrollen, starke Farben an die Wände klecksen, wenig farbenfrohe, geblümte Gardinen vor die Fenster hängen, die Wohnung mit Blumen und Bildern schmücken und mit Möbeln ausstaffieren, in denen man sich nur als Yogaspezialist wohlfühlen konnte.

Die Haushaltshilfe kam aus dem Schlafzimmer. Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr. »Es gibt wohl nichts zu tun«, sagte sie.

»Nein«, sagte ich kleinlaut. »Nichts, außer die Polizei anzurufen.«
Das breite Gesicht wurde noch flacher, die Haut spannte sich über den Wangenknochen, und ich ahnte, wie sie ihren Zeitplan sich in Luft auflösen sah.
»Die Polizei? Aber warum denn? Sie glauben doch nicht etwa …« Sie sah forschend zu meinem Gesicht auf.
Ich sagte: »Er war selbst Polizist. Vor ein paar Monaten erlitt er einen Unfall. Er wurde angefahren. Ich glaube, es wäre dumm von uns, nicht die Polizei anzurufen.«
Sie nickte.
Ich sagte schnell: »Würden Sie bitte so nett sein und das tun? Dann bleibe ich solange hier.«
Sie nickte: »Ist in Ordnung. Glauben Sie, wir müssen eine Erklärung abgeben?«
»Das ist sicher schnell gemacht«, sagte ich. »Ist ihnen auf der Treppe niemand begegnet, als Sie kamen?«
Sie sah mich verwundert an. »Auf der Treppe? Nein. – Niemand.«
Sie schüttelte den Kopf und ging zur Tür. Dann hielt sie plötzlich inne, wurde bedächtig in ihren Bewegungen.
»Das heißt …«
»Ja?«
»Auf der Treppe ist mir niemand begegnet. Aber es kam einer raus, als ich noch unten auf der Straße war.«
»Aus diesem Haus?«
»Ja. Er ging in die entgegengesetzte Richtung, deshalb konnte ich ihn nicht so deutlich sehen.«
»Ein Mann?«
»Ja. Er …« Sie biß sich auf die Lippen, dachte noch einmal nach. »Da war was an ihm.«
»Ja?«
Dann erhellte sich das Gesicht plötzlich und sie sagte: »Ja, das war’s! Er zog irgendwie das eine Bein nach, als ob er – ja, hinkte.«
Etwas Böses und Kaltes griff um meine Brust. »Sind Sie sicher, daß er … daß er wirklich … hinkte?«
»Ja, so sicher, wie ich hier stehe. Hat das was zu bedeuten?«
»Ich weiß nicht. Aber vergessen Sie um Himmels Willen nicht, das der Polizei zu erzählen! Vergessen Sie das nicht!«
»Nein, ist gut. Nein, werde ich nicht.«
Dann warf sie einen unbestimmbaren Blick in Richtung Schlafzimmer, machte eine Bewegung mit der freien Hand, umklammerte fest mit der anderen ihre Handtasche und war aus dem Zimmer.
Ich blieb zurück und sah mich noch einmal um. Der Raum hatte eine neue Atmosphäre bekommen. Ich durchforschte ihn. Gab es irgendetwas, das nicht stimmte? Die Türen der Anrichte, stand nicht die eine einen winzigen Spalt offen, als hätte gerade eben jemand sie geöffnet und danach nicht wieder ordentlich geschlossen? Der Zeitungsstapel neben dem Ofen, war der nicht unordentlicher, als bei meinem letzten Besuch? Und was war mit dem Schlafzimmer?
Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf.
Ich ging ins Schlafzimmer. Ich versuchte, nicht direkt zu Hjalmar Nymark zu sehen. Ich ging auf die Knie und sah unter das Bett. Ich stand wieder auf und öffnete den Kleiderschrank, stellte mich auf die Zehen und sah auf das oberste Bord, verrückte ein paar Pappschachteln. Ich schob die zwei Anzüge und die vier Hemden zur Seite, verstellte die Schuhe auf dem Boden. Ich zog einen Hocker an den Schrank heran, stieg hinauf und sah auf dem Schrank nach. Hinten an der Wand lag eine alte Strickjacke. Sonst war dort oben nichts als Staub.
Ich stieg wieder herunter und blieb stehen. Ließ den Blick durch den ganzen Raum gleiten. Die letzte Möglichkeit war der Nachttisch. Ich öffnete die Schublade. Dort lag eine alte Bibel und eine Illustrierte mit angeblich aktuellen Kriminalreportagen. Ich öffnete die Klappe darunter. Dort lag ein gebrauchtes Taschentuch, ein Fetzen einer alten Zeitung und eine leere Leimtube. Sonst nichts.
Ich richtete mich auf und starrte direkt auf Hjalmar Nymark. Seine Augen waren gläsern und starr. Sie verrieten nichts.
Ich ging wieder aus dem Zimmer und untersuchte die möglichen Verstecke im Wohnzimmer. Nichts!
Ich ging in den Flur, durchsuchte den Schrank, die Regale und eine kleine Kommode. Nichts!
Der letzte Raum war die Küche. Ich öffnete zuerst den Kühlschrank. Dort stand frische Milch, ein Karton mit sechs Eiern, ein paar Tuben Käse und ein Plastikbehälter mit Tomaten. Das war alles. Die Küchenschränke, die Schubladen und die kleine Speisekammer ergaben das gleiche magere Resultat.
Ich blieb am Küchenfenster stehen und starrte auf den Puddefjord hinunter. Draußen bei Laksevåg hatte eine mennigefarbene Bohrinsel zur Überholung festgemacht. Das starke Rot zeichnete sich scharf gegen die Bebauung am Damsgårdsfjell ab, wo die Herbstfarben der Vegetation noch nicht ihren Todesstempel aufgedrückt hatten. Der Himmel über dem Fjell war bleigrau und schwer. Es war einer dieser Augusttage, die von Herbst und Winter und Tod kündeten.
Ich ging langsam zurück ins Wohnzimmer. Ich war ziemlich sicher. Die Pappschachtel, in der Hjalmar Nymark die Zeitungsausschnitte und das ganze übrige Material über den Brand bei Pfau aufbewahrt hatte, war nicht mehr in der Wohnung.

14

Die Haushaltshilfe kam zurück. Die Polizei sei unterwegs, sagte sie. Wir setzten uns beide auf einen Stuhl und blieben auf der äußersten Kante sitzen, ohne etwas zu sagen, wie zwei ferne Verwandte, die sich zum ersten Mal nach vielen Jahren wiedertreffen und nichts zu bereden haben.

Wir hörten sie im Eingang und erhoben uns, bevor sie ins Wohnzimmer kamen. Es waren Hamre, Isachsen und Andersen. Sie grüßten leise, als seien sie schon zum Begräbnis gekommen, und gingen schweigsam ins Schlafzimmer. Als sie wieder herauskamen, waren die Gesichter betrübt. Hamre strich sich bekümmert übers Kinn und sah mich mit leerem Blick an. »Es ist immer traurig«, sagte er.

Niemand protestierte.
Die Haushaltshilfe sagte sofort, daß neue Patienten warteten, sie habe wenig Zeit, und ob sie nicht als erste ihre Aussage machen könne.
»Aussagen?« sagte Hamre und sah mich fragend an.
Ich öffnete den Mund, aber sie kam mir zuvor. »Ja, heißt das denn nicht so?«
Isachsen und Andersen bewegten sich vorsichtig im Raum herum ohne irgendetwas zu berühren. Isachsens bleiche Som

mersprossen verschwanden fast bei der schlechten Beleuchtung. Andersen schnaufte schwer nach dem langen Aufstieg durchs Treppenhaus. Sein dicker Bauch stieß stramm gegen die Anzugjacke, die drauf und dran war, aus den Nähten zu platzen. Isachsen hatte den üblichen säuerlichen Ausdruck im Gesicht und ignorierte mich völlig.

Hamre sah mich immer noch an. »Deutet irgendwas daraufhin, daß der Todesfall verdächtig wäre?«

»Du kennst selbst die Vorgeschichte. Und übrigens. Die Haushaltshilfe hatte den klaren Bescheid bekommen, daß die Tür unverschlossen sein sollte, wenn sie käme. Das war sie nicht. Wir mußten sie aufbrechen.«

»Einen Augenblick mal, Veum. Weshalb bist du hergekommen, gerade heute?«

»Ich bin heute vormittag von Sotra zurückgekommen. Als ich im Krankenhaus anrief, bekam ich zu hören, er sei entlassen worden. Ich ging direkt hierher und traf – äh …«

»Lie. Tora Lie«, sagte die Haushaltshilfe und sah so aus, als wolle sie auch noch die Hand ausstrecken.

»Na gut …«, sagte Hamre. Alle drei Polizisten hörten mir jetzt zu, Isachsen allerdings hatte den Blick aus dem Fenster gerichtet, als ob es ihn eigentlich nicht interessierte, aber an der gespannten Haltung konnte ich sehen, daß er mit dem ganzen Körper lauschte.

»Frau Lie erzählt, sie hätte, als sie kam, einen Mann das Haus verlassen sehen. Einen Mann, der hinkte«, fügte ich mit Nachdruck hinzu.

»Soso«, sagte Hamre ungeduldig. »Aber …«
»Hjalmar Nymark da drinnen – das Kopfkissen liegt auf dem Boden, als hätte jemand es benutzt, um … Ich würde die Todesursache untersuchen lassen. Wenn die auf Erstickungstod lautete, fände ich das äußerst verdächtig.«
Hamre schloß geduldig die Augen, als wolle er sagen, ich solle doch aufhören, ihn über alltägliche Polizeiroutine zu belehren und öffnete sie wieder.
Ich sagte schnell: »Und als ich das letzte Mal hier war, zeigte mir Hjalmar Nymark eine Pappschachtel mit altem Material zu den Ermittlungen um den Brand bei Pfau. Zeitungsausschnitte, Sachdokumente, technische Berichte und so weiter. Und diese Pappschachtel, die kann ich nirgends finden.«
»Hast du dich denn auch gut genug umgesehen?« fragte er säuerlich.
»Hast du überall gesucht? Deine Fingerabdrücke über die ganze Wohnung verteilt? Sodaß keine anderen mehr zu finden sind?«
»Das spielt keine Rolle, das weißt du genausogut wie ich. Wenn hier fremde Fingerabdrücke sind, dann wirst du sie trotzdem finden. Außerdem ist nicht sicher, daß der, der hier war, überhaupt zu suchen brauchte. Als Hjalmar Nymark die Schachtel holte, damals, war er hier drin – im Schlafzimmer. Entweder hat sie unter dem Bett gestanden, ganz oben im Kleiderschrank oder unter dem Nachttisch. Ich tippe auf das Bett. Der, der sie mitgenommen hat …«
»Wenn jemand sie mitgenommen hat«, unterbrach mich Hamre. Er sah bleich aus. Viel Sonne hatte es da, wo er die Sommerferien verbracht hatte, auch nicht gegeben. Der Stoppelbart zeigte sich deutlich und es war etwas Zähes, Graues an ihm, das kein gutes Wetter verhieß. Er wandte sich an die beiden anderen.
»Beordert die nötigen Leute her und führt die routinemäßigen Untersuchungen in der Wohnung durch. Ich nehme Veum mit mir auf die Wache, damit er seine Aussage machen kann.«
Zu Tora Lie sagte er freundlich: »Sie können ruhig ihre anderen Patienten besuchen, wenn Sie nur so nett wären, sich später im Laufe des Tages bei mir auf der Polizeiwache zu melden.«
Die Haushaltshilfe nickte dankbar. Hamre nickte mit dem Kopf in Richtung Tür und sah mich starr an.
»Na los, Veum.«
Ich folgte Tora Lie auf den Fersen durch die Tür. In der Türöffnung drehte ich mich um und sah zurück. Jon Andersen stand da und studierte interessiert die Bilder der Eltern Hjalmar Nymarks, während Peder Isachsen mürrisch die Fensternische betrachtete, als erwarte er, dort schlagende Beweise zu finden. Im Zimmer dahinter lag Hjalmar Nymark auf dem ›lit de parade‹, wie ein zufällig hinterlassener Gegenstand. Ich ging aus dem Zimmer und durch die Eingangstür mit der zerbrochenen Scheibe. Unten auf der Treppe hörte ich Tora Lie etwas sagen und Hamre leise, aber freundlich antworten – wie es sein Stil war. Ich folgte ihnen, mit dem unbehaglichen Gefühl, immer zu spät aufzutauchen – wie es mein Stil war.

15

Als wir auf die Wache kamen, bat Hamre mich, zu warten. Ich nahm auf einem der Stühle mitten vor der Schranke Platz, hinter der vornübergebeugt ein älterer, bebrillter Polizist saß und die Sportseiten in einer der Tageszeitungen las. Er hatte einen verstörten Gesichtsausdruck, und das verwunderte mich nicht. Die lokale Erstligamannschaft hatte am Tag zuvor haushoch verloren, und nun hatte auch noch die Mannschaft der zweiten Liga zu verlieren begonnen.

Die Polizeiwache trägt Merkmale eines Wartezimmers. Diejenigen, die dort warten, sind vielleicht nicht gerade todkrank, aber die meisten von ihnen sehen so aus. Einige sitzen da und drehen nervös die Daumen. Andre murmeln leise vor sich hin, Litaneien wie die Erklärung der zehn Gebote im Konfirmandenunterricht früherer Zeiten. Lose Vögel kommen und gehen, einige ziemlich verlottert, andere durchaus nicht ohne Bravour. Als ob die Schattenseite des Lebens Revue passierte. Und in der ersten Reihe im Orchester sitzt: der waschbare Veum, die Hoffnung, die nie verblaßt.

In gewisser Weise war es, als säße man im Wartezimmer eines Zahnarztes, ohne einen Termin zu haben. Alle, die neben mir saßen, wurden einer nach dem anderen hereingeholt und wieder hinausgelotst. Ich blieb sitzen, lange Zeit ganz allein.

Hamre war ein paarmal draußen in der Wache, ohne ein Zeichen zu geben, daß ich mit hineinkommen sollte. Er ging mit schnellen Schritten: ein effektiver und energischer junger Mann auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ich saß da und sah zu und fragte mich, was das wohl für ein Gefühl sein mußte. Ich war nie so hoch gewesen. Vielleicht würde ich es auch nicht verkraften. Mir würde wohl schwindelig werden.

Andere Polizisten gingen vorbei, wie eine Kavalkade mehr oder weniger mißglückter Karikaturen. Dankert Muus trampelte vorbei wie ein liebeskranker Elefant.

Ellingsen und Boe hatten wieder zueinander gefunden, aber Ellingsen zog immer noch das eine Bein nach, nach dem Beinbruch vor ein paar Jahren. Er sei zu früh aufgestanden, sagten sie – wenn nicht seine Frau ihn aus dem Bett geworfen hatte. Sie hieß Vibeke, und ich hatte sie einmal ein bißchen näher gekannt, als wir zur Schule gingen. Wenn ich nachrechnete, war es sicher zehn Jahre her, daß ich sie zuletzt gesehen hatte, aber es amüsierte mich – in fröhlichen Stunden – Ellingsen glauben zu machen, daß es häufiger vorkam. Deshalb grüßte er auch nicht, als er vorbeiging. Aber Boe opferte mir einen schrägen Blick und einen diskreten Gruß mit den Augenbrauen. Er war schmaler als Ellingsen, magerer im Gesicht und mit dünnerer Vegetation auf dem Hochplateau.

Jon Andersen ging einen Schritt weiter: er kam herüber und wechselte ein paar Worte. »Wir checken gerade«, murmelte er.
»Was denn?« fragte ich.
»Du weißt doch«, sagte er, warf einen scheuen Blick auf den Wachhabenden und schlurfte weiter.
Eva Jensen kam vorbei, ohne mich zu bemerken. Ich folgte ihr mit dem Blick. Sie ging federnd. Vielleicht spielte sie Handball, oder lief für den Polizeisportverein. Von Vadheim sah ich nichts.
Endlich kam Hamre wieder heraus. Mit einem kurzen Blick wandte er sich an mich und bedeutete mit einem krummen Finger an, daß ich mitkommen sollte.
Ich folgte ihm in den dritten Stock, den Korridor entlang und in sein Büro. Er schloß die Tür hinter mir und wies auf einen Stuhl. Ich sah auf die Uhr. Es waren zwei Stunden vergangen. Ich fühlte mich hungrig und hoffte, daß es nicht zu lange dauern würde.
Er setzte sich hinter den Schreibtisch und kam direkt zur Sache. »Wir haben mit den beiden Pflegern gesprochen, die ihn vom Krankenhaus nach Hause begleitet haben.«
Ich beugte mich vor. »Ja, und?«
»Sie waren unsicher. Sie brachten ihn ganz bis nach oben. Er wollte selber gehen, aber er hatte Schwierigkeiten, allein hochzukommen.«
In mir zog es sich zusammen. »Das kann ich mir denken. Aber sie brachten ihn nur rauf und ließen ihn dann zurück. Ungefähr, als brächten sie morgens den Abfalleimer nach draußen.«
Er machte eine resignierte Handbewegung. »Mir gefällt das ja auch nicht, Veum. Aber diese Männer konnten doch nun wirklich nichts tun. Sie hatten einen Auftrag auszuführen. Und die Krankenhausverwaltung ist genauso hilflos, gebunden durch Tarifabsprachen und Arbeitsschutzgesetz, stramme Budgets und Personalmangel. Und dann sind Ferien. Sie mußten ihn einfach gehen lassen.«
Ich sagte bitter: »Das mußten sie wohl. Hochwohlgeborene Administratoren sitzen da und pochen auf Budgets, die ebenso hochwohlgeborene Politiker für sie zurechtgelegt haben. Hast du jemals von Politikern gehört, die verhungert sind, oder die zweimal die Woche eine Haushaltshilfe bekommen, oder in kleinen Wohnungen liegen und verrotten, weil niemand kommt und bemerkt, daß sie tot sind? Hast du mal gehört, daß sowas Politikern passiert?«
»Nein.«
»Aber Gnade den armen Teufeln, die den Fehler gemacht haben, in diesem sogenannten Wohlfahrtsstaat alt zu werden. Arme Teufel, wenn sie anfangen, nachzurechnen, wie viele Steuern sie im Laufe all der Jahre von ihrem Lohn gezahlt haben und sich fragen, was sie jetzt davon haben, wo sie das Geld vielleicht brauchen könnten.«
»Du weißt, wie das ist, Veum. Jeder denkt an sich. Wir sind einfach zu wenige, auch hier im Haus. Du solltest die Überstundenlisten sehen.«
Ich sagte müde: »Ich weiß, ich weiß. Aber es gibt schwächere Gruppen als euch. Leute, die in Rente gegangen sind. Oder Jugendliche, die Schlange stehen, um Arbeit zu kriegen, in der Lebensphase, in der sie am verletzbarsten sind. Bei den Alten wird schon dafür gesorgt, daß sie so schnell wie möglich unter die Erde kommen. Die Jungen kommen an Stoff oder Alkohol, allzuviele jedenfalls. Wir sind nicht zu bedauern, Hamre, Leute wie du und ich. Alles, was wir haben, sind Beziehungsprobleme und lästige Überstundenlisten. Aber das sind doch alles nur Luxusprobleme, Hamre, verstehst du?«
Er sah mich schwermütig an und sagte: »Auch du zehrst jetzt gerade von meinen Überstunden, Veum. Um da weiterzumachen, wo du unterbrochen hast …«
»Tut mir leid, ich …«
»Ist schon in Ordnung.«
»Verstehst du, Hjalmar Nymark und ich, wir …«
»Ich sagte, es ist in Ordnung, Veum. Kann ich weitermachen?«
Ich hob resigniert die Hände. Die Leute haben keine Zeit, sich von Freundschaft erzählen zu lassen. Sie haben ja kaum Zeit, Freundschaften aufzubauen. Es könnte ihre festgesetzte Arbeitszeit überschreiten.
Er fuhr fort: »Sie brachten ihn also nach oben und begleiteten ihn hinein. Sie nahmen sich auch noch die Zeit, ihn zu fragen, ob sie ihm was zu Essen machen könnten. Aber er sagte, es sei in Ordnung und daß er sich ein bißchen aufs Ohr legen und warten wolle, bis die Haushaltshilfe käme. Sie halfen ihm in sein Bett. Und dann … Dann sind sie gegangen.«
»Soso. Und ließen die Tür offenstehen, so wie man es ihnen aufgetragen hatte?«
»Tja, das ist so eine Sache. Sie waren sich da nicht so sicher. Du weißt, wie das ist, wenn zwei Leute etwas tun sollen. Der eine glaubt, der andere tut es, und der andere glaubt, daß der erste es schon getan hat. Sie konnten also für nichts garantieren, aber der eine von ihnen meinte, er habe das Schloß festgeklemmt, und die Tür danach nur hinter sich zugezogen.«
»Tja.« Ich seufzte und setzte hinzu: »Aber wir können jedenfalls davon ausgehen, daß sie offenstand und als die Haushaltshilfe und ich ankamen, da war sie verschlossen.«
»Sie kam also als erste?«
»Ja. Sie stand da oben, als ich kam, und sie … Sag mal, ihr verdächtigt doch wohl nicht sie, …«
»Wir verdächtigen niemanden, Veum.«
»Und sie erzählte, wie gesagt, daß sie einen Mann das Haus verlassen sah, gerade als sie kam. Einen, der auf dem einen Bein hinkte.«
Er zog eine Grimasse. »Also ehrlich, Veum. Laß uns nicht melodramatisch werden. Ich verstehe, daß du verzweifelt bist über den Tod eines guten Freundes, und ich kann dir versichern, wir mögen es auch nicht, daß pensionierte Kollegen auf diese Weise sterben.«
»Schon. Aber du mußt doch auch das Auffällige an der Sache sehen. Erst der Unfall und dann – am ersten Tag, als er wieder aus dem Krankenhaus raus ist, liegt er tot im Bett.«
»Das erste, was wir herausfinden werden, ist die Todesursache.«
»Ich tippe, daß er erstickt ist.«
Er zuckte mit den Schultern.
Ich fuhr fort: »Das Kopfkissen. Es lag auf dem Boden. Das Natürlichste ist doch wohl, daß man es unter dem Kopf hat, oder? Ein alter, invalider Mann in einem Bett – und ein Kopfkissen. Jeder X-beliebige könnte ihn umgebracht haben – ein Kind, eine Frau …«
Er kratzte sich an der Stirn. »Die Obduktion wird das klären. In der Zwischenzeit unternehmen wir selbstverständlich alles, was wir nur können. Die Wohnung wird genauestens durchkämmt. Wir werden die Haushaltshilfe gründlich verhören – vielleicht eine Personenbeschreibung des hinkenden Mannes bekommen, eine Fahndung rausschicken. Ich versichere dir: wir werden alles tun, was in unserer Macht steht. Du kannst ganz beruhigt sein.«
»Und die Pappschachtel mit den Zeitungsausschnitten. Ich bin sicher, daß er sie nicht irgendwo außerhalb der Wohnung versteckt hat. Der Unfall kam doch so plötzlich und – ich glaube, er hätte das erwähnt … Wenn sie nicht mehr da ist, dann hast du doch da das Motiv.«
»Es ist nur so, Veum, daß du, soweit wir wissen, der einzige bist, dem er die Schachtel gezeigt hat.«
»Da muß es auch noch andere geben. Finde das heraus!«
»Wir werden, wie gesagt – Aber du weißt, wie das ist: eine Behauptung ist nicht mal das Papier wert, auf das man sie schreibt – wenn sie nicht durch Beweise gestützt werden kann, oder identische Zeugenaussagen!«
Ich nickte düster. Das hörte sich nicht sehr ermutigend an. Ich hätte vorher daran denken sollen. Als Hjalmar Nymark überfahren wurde, hätte ich mir irgendwie den Schlüssel zu seiner Wohnung besorgen, die Schachtel holen und an einen sicheren Ort bringen sollen. Das Material in der kleinen Pappschachtel war einzigartig gewesen. Wenn es verschwunden war, befürchtete ich, daß vor der Affaire um den Pfau-Brand ein für allemal der Vorhang gefallen war, daß die Identität der ›Giftratte‹ für alle Zeit verborgen bleiben würde und daß Hjalmar Nymark, was diese Fälle betraf, die letzten Reste von Neugier mit über den Jordan genommen hatte – dorthin, wo niemand in anderen Archivmappen wühlt als in der einen, entscheidenden und dorthin, wo alle Geheimnisse endgültig gelüftet werden.
»Weiter war nichts?« fragte ich Jacob E. Hamre.
»Weiter war nichts.«
»Meldest du dich, wenn der Obduktionsbericht vorliegt?«
»Ja. Aus alter – Freundschaft«. Ich verstand die kleine Pause vor dem einen Wort. Es war eher eine Phrase als alles andere.

16

Tage mit plötzlichen Todesfällen sind Tage, die einen zurückwerfen. Ich saß im Büro, ein paar Stunden waren vergangen. Der Arbeitstag war für die meisten vorbei und die Stadt dabei, sich zu leeren. Wie durch ein Wunder hatte jemand die Wolken vom Himmel gewischt. Ein paar kleine wollene Miniaturschafe hingen draußen über Askøy und bekamen Farbe auf dem Bauch von der fallenden Nachmittagssonne. Ein goldenes Licht füllte die Stadt, flocht sich zwischen die steilen Hausfassaden, schuf plötzliche Reliefs auf dem Straßenpflaster und ließ es in blanken Fensterscheiben blitzen.

Ich war nicht in der Lage gewesen, irgendetwas Vernünftiges zu tun, nachdem ich die Polizeiwache verlassen hatte. Ich hatte in der Cafeteria im ersten Mittag gegessen und im Büro im dritten die Abendzeitungen durchgelesen. Nun saß ich bei schräggestelltem Fenster und hörte die Geräusche des ausklingenden Alltags zu mir hereinsickern. Noch nicht alle hatten Feierabend gemacht. Für manche begann ein neuer Arbeitstag. Unten auf dem Markt war der Prediger dabei, sich in Position zu bringen.

Er hatte da gestanden, solange ich denken konnte, mit demselben mageren Gesicht, derselben zerzausten Frisur, demselben begeisterten Tonfall, wenn er von Jesus sprach. Er war wie eine Figur aus der gutgläubigen Landschaft der Kindheit, wo alles einfach und schwarz-weiß war, Gott ein Mann mit weißem Bart zwischen rosa Wolken und der Tod etwas Fernes, Unbegreifliches, das uns eigentlich nicht anging. Etwas, das Banditen und Indianern widerfuhr, im abenteuerlichen Amerika. Etwas, das den Großeltern widerfuhr, wenn sie alt genug waren.

Der Prediger war wohl in den Fünfzigern und wenn ich nachrechnete, konnte er kaum dort gestanden haben, als ich Junge war. Trotzdem schien er immer dagewesen zu sein. Prediger kamen und gingen; Heilsarmeeoffiziere und scheinheilige Schweden mit Elvis-Frisur hatten Jugendsünden bekannt; junge, blonde Mädchen mit knielangen Faltenröcken hatten zweistimmig gesungen von Seligkeit und Glück. Aber die waren jetzt verschwunden. Nur der Prediger war noch da. In einer ungläubigen Zeit war er der letzte Mohikaner. Er lächelte – aber war da nicht trotzdem ein Zug von Bitterkeit um den Mund? Die Begeisterung – konnte die den Anflug von Enttäuschung überdecken, wenn er ständig von betrunkenen Jugendlichen und alten Säufern gestört wurde?

Er hatte jetzt die Lautsprecher zurechtgerückt, das elektrische Akkordeon eingestöpselt und spielte versuchsweise ein paar Töne, ehe er anstimmte:

Er hat das Perlentor geöffnet, sodaß hinein ich kommen kann!

Nein, keine Bitterkeit, keine Enttäuschung, sondern der selbe, freudetrunkene Tonfall wie immer, gesungen mit einer Inbrunst, um die ich ihn immer beneiden würde, die ich nie ganz würde fassen können.

Er sang weiter, und ich hörte ihn im Hintergrund, während die Gedanken weiterschweiften.
Ich sah Hjalmar Nymark vor mir, zum Perlentor hinaufschlendernd, in seinem alten Anzug, die Zeitung zusammengerollt in der Faust, das Haar leicht zerzaust und der Anzug leicht verknittert, nach einer allzu hastigen Abreise. Ich sah das Perlentor vor mir, wie es sich dem kindlichem Naivismus immer darstellte, wenn ich dieses Lied hörte, auf einem Fundament aus weißen Wolken errichtet, glitzernd von Perlenglanz, fast blendend im starken, klaren Sonnenlicht. Hjalmar Nymark klopfte an, und es wurde geöffnet. Ich sah ihn dastehen und warten, leise pfeifend, während er sich umsah, ungefähr wie ein Losverkäufer, der an der Tür steht, während jemand hineinläuft, um Geld zu holen. Sie waren hineingegangen, um die Kartothek durchzuchecken, wenn sie nicht auch dort schon zu EDV übergegangen waren. Dann ging das Tor wieder auf und Hjalmar Nymark konnte hereinkommen.

Er hat das Perlentor geöffnet, sodaß hinein ich kommen kann!

Ich ging ans Fenster und sah hinunter. Jetzt stand er da und redete. Niemand blieb stehen, um ihm zuzuhören. Einige gingen hastig vorbei, ohne nach rechts oder links zu sehen. Ein paar junge Mädchen kamen vorbei, gekrümmt vor unterdrücktem Gelächter. Am Strandkai direkt unter mir blieben ein paar japanische Touristen stehen, und es dauerte nicht lange, bis die Fotoapparate im Einsatz waren. Folklore auf den Film gebannt. Der letzte Mohikaner, lebend angetroffen, auf dem Marktplatz in Bergen.

In solchen Augenblicken fühlte ich mich ihm verwandt. Er dort unten, allein, in begeisterter Rede über Jesus. Ich hier oben, als sein einziger wirklicher Zuhörer. Und er wußte nichts von mir.

Als er fertig war, packte er seine Sachen zusammen, unterhielt sich ein wenig mit ein paar Pennern, die vorbeikamen, belud seinen Wagen und fuhr nach Hause. Ich blieb zurück, allein an meinem Schreibtisch, während die Dunkelheit langsam die Stadt erfüllte, das Büro und mich – bis wir ein Dunkel waren, ein Stoff, ein Gedanke …

Ich mußte gedöst haben. Als ich die Augen wieder öffnete, blinkten mir grüne und rote Neonlichter entgegen, wie kalte Verzierungen im Dunkel.

Ich zog mir langsam den Mantel an, schloß das Büro ab und fuhr nach Hause. Es war nichts anderes zu tun.

17

Und dann, als die meisten Menschen ihren Job wieder begonnen hatten und die Schule wieder anfangen sollte, war plötzlich der Sommer da, mit voller Kraft aufflammend, wie eine Altersverliebtheit. Die Hitzewellen überfluteten die Stadt wirklich wie Wellen, denn von Zeit zu Zeit zogen sie sich zurück, wie um Kräfte zu sammeln, und dann waren kalte Wellentäler in der Luft aus dem Sommer, den wir hinter uns gebracht und vom Herbst, den wir noch vor uns hatten.

Jacob E. Hamre rief schon am nächsten Tag an. »Um dir zuvorzukommen«, sagte er.
»Soso«, sagte ich.
»Wir haben den Obduktionsbericht bekommen«, sagte er.
»Und der besagt?«
Er hielt einen Augenblick inne. Dann sagte er: »Herzversagen.«
»Was?«
»Die Todesursache war Herzversagen. Ganz einfach und keinesfalls unnatürlich – für einen Mann in seinem Alter. Und nach den Anstrengungen, denen er in letzter Zeit ausgesetzt war. Der Arzt sagte, daß es sogar eine verspätete Reaktion auf den Unfall gewesen sein könnte. Der Körper war schon geschwächt. In gewisser Weise …«
»Ja?«
»In gewisser Weise war es fast barmherzig. Ein Mann wie Hjalmar Nymark hätte nicht so leben können, wie er es mit diesen Verletzungen gemußt hätte. Es war nur gut, daß es so schnell ging.«
»So kann man es natürlich auch sehen.«
»Ja.«
»Und die weiteren Ermittlungen?«
Er sagte schnell: »Die laufen.« Dann kam ein wenig langsamer: »Aber wir haben keine Fortschritte gemacht. Es gibt vorläufig nichts, das auf etwas Kriminelles hindeutet.«
»Aber der hinkende Mann?«
»Da ist nur die Haushaltshilfe, die ihn gesehen hat, und als wir noch einmal mit ihr sprachen, war sie sich nicht mehr so sicher, ob er wirklich hinkte, oder ob es vielleicht nur so gewirkt haben konnte.«
Ich war irritiert. »Nur so gewirkt? – Und was ist mit der Pappschachtel, habt ihr die gefunden?«
Sein Tonfall war müde: »Nein, Veum. Das haben wir nicht.«
»Dann setzt ihr also die Ermittlungen fort?«
»Ja. Ich dachte nur, es würde dich interessieren, zu …«
»Das tut es auch, Hamre. Danke für den Anruf. Sie haben es sicher vermerkt auf der anderen Seite des Perlentors, in dem grauen Archivschrank, auf der Karte mit deinem Namen drauf. Einen schönen Tag noch, Hamre.«
»Gleichfalls, Veum.«
Ich legte auf.

Eine Woche später stand die Todesanzeige in der Zeitung. Sie war so einfach, wie sie nur sein konnte:

Unser alter Freund Hjalmar Nymark
starb plötzlich, 70 Jahre alt. Freunde und Kollegen. Er sollte am Tag darauf beigesetzt werden. Ich riß die Annonce aus der Zeitung und legte sie mitten auf den Schreibtisch, zusammen mit überwältigenden Mengen von Papieren und Dokumenten zu all den anderen Fällen, die ich bearbeitete. Sie

lag mit anderen Worten allein.

An dem Tag, an dem Hjalmar Nymark beigesetzt werden sollte, war der Sommer wieder vorbei. Der Himmel hatte sein graues Hemd angezogen, und es lag ein trauriger Zug von Spätsommer in der Luft. Das paßte zur Situation.

Die Schotterwege zwischen den Gräbern auf Møhlendal knirschten unter meinen Füßen. Alte Grabsteine standen herum und lehnten sich hintenüber, wie ältere Menschen, wenn es im Kreuz schmerzt. Die Buchstaben, die hineingemeißelt waren, sandten ihre knappe Botschaft ins Universum hinauf – ein Name und zwei Jahreszahlen: ein Lebenslauf in Fakten eingefangen. Alles und Nichts: eine Handvoll Buchstaben und acht Ziffern. Alle Erniedrigungen und alle Freuden. Alle Trauer und alles Lachen. Liebe und Enttäuschungen. Zärtlichkeit und Einsamkeit. Das steht dort nicht. Das ist da einfach, irgendwo hinter den Namen und Jahreszahlen, in der Erde unter den krängenden Steinen, den zerzausten Blumen und den überwucherten Fliesengängen.

Hinten an der Kapelle wartete eine Handvoll Menschen. Der Kripochef war da, aber wir waren einander nie vorgestellt worden. Er war ein bürokratisch aussehender Mann mit starker Brille. Vadheim war da, mit noch traurigeren Blick als gewöhnlich. Mehrere ältere Polizisten schlossen sich uns an, die meisten von ihnen Rentner. Jacob E. Hamre kam im letzten Augenblick angehastet, den Mantel flatternd hinter sich und das Haar zerzaust von den heftigen Windstößen. Drinnen in der Kapelle wartete Hjalmar Nymark in einem weißen Sarg. Zur gegebenen Zeit gingen wir hinein: ich zählte elf Männer, nicht eine einzige Frau und – abgesehen von Hamre und mir – nicht einen Menschen unter fünfzig. Hjalmar Nymarks Todesanzeige hatte von einem Leben in Einsamkeit gezeugt. Keine Familie, keine Namen, nur das anonyme ›Freunde und Kollegen‹. Der Sarg war mit einem einzigen Kranz geschmückt, von der Polizeigewerkschaft, und zwei Trauersträußen. Der eine war von mir.

Der Pfarrer war Ende fünfzig und die Rede, die er hielt, so persönlich wie eine Fotokopie. Wenn jemand einen Kloß im Hals hatte, dann jedenfalls nicht seinetwegen.

Zum Schluß streute er Erde über den Sarg. »Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden …« Die Bühnenarbeiter zogen an den richtigen Seilen, und der Sarg mit Hjalmar Nymark verschwand im Keller, um später eingeäschert, in eine Urne gefüllt und an einem geeigneten Platz abgestellt zu werden. Dort sollte er ruhen, bis es an dem Platz zu eng, das Grab umgegraben und er selbst ein Name in den Registern werden würde. Die steilen Felswände von Ulriken würden über ihn wachen, ein Vierteljahrhundert lang oder so, Regen und Schnee würden fallen, neue Menschen sterben und sich um ihn versammeln, als stellten sie sich auf zum Gesang in einem himmlischen Chor. Vielleicht würde ich selbst mich den Reihen anschließen, bevor sein Grab umgegraben war. Vom Tod wissen wir nichts: nicht, wann er kommt, nicht, was er verbirgt. Ein Auto hinter einer Straßenecke, ein Kopfkissen auf dem Boden … Schon ist er da, rätselhaft und mächtig, unabwendbar wie die Herbststürme, unaufhaltbar wie der ewige Kreislauf der Jahreszeiten.

Wie immer blieben einige vor der Kapelle stehen. Ich begrüßte ein paar von Hjalmar Nymarks alten Kollegen. Seit langem hatte keiner von ihnen ihn gesehen, aber trotzdem war es traurig, daß er nicht mehr da war.

Ich ging zu Hamre hinüber, der ein Zeichen machte, als wolle er weiterhasten. Er sah mich unzufrieden an, als sei ich sein personifiziertes schlechtes Gewissen.
Ich sagte: »Na? Gibt’s was Neues?«
Er war verspannt und bleich um den Mund, als er antwortete:

»Nein. Es gibt keine triftigen Gründe, wertvolle Arbeitskraft darauf zu verwenden, in dieser Sache weiter zu ermitteln, Veum. Nichts deutet darauf hin, daß etwas Kriminelles abgelaufen ist. Unglückliche Umstände vielleicht, und nicht einmal das. Die Todesursache war Herzversagen. Es gab keine Zeichen von Erstickung – die es gegeben hätte, wenn das Kopfkissen als Mordwaffe benutzt worden wäre. Die beiden Pfleger vom Krankenhaus konnten nicht unterschreiben, daß sie die Tür offengelassen hätten – ganz im Gegenteil, sie sind äußerst unsicher. Diese Pappschachtel … tja …« Er zuckte vielsagend mit den Schultern. »Nymark könnte sie selbst weggeschafft haben, vor dem Unfall. Du sagst selbst, er habe an diesem Tag niedergeschlagen gewirkt, als du ihn im Lokal trafst. Manche Leute tun solche Sachen, wenn sie deprimiert sind: räumen die Vergangenheit beiseite, werfen sie in den Müll oder schmeißen sie in den Ofen und machen Feuer.«

»Und was ist mit dem Unfall selbst?«

»Tja, das ist natürlich was anderes. Das war ein Verbrechen. Selbst wenn es ein Unfall gewesen wäre, hätte sich der Betreffende selbstverständlich melden müssen.«

»Der Fall ist also noch nicht abgeschlossen?« fragte ich und hörte den Sarkasmus in meiner eigenen Stimme.
»Nein.«
»Ihr arbeitet daran mit allen Kräften?«
Er sah mich resigniert an. »Also, mal ehrlich, Veum. Du weißt, womit wir uns rumplagen müssen. Wir …«
»Erspar dir weitere Vorlesungen, Hamre. Ich will es nur wissen.«
Es blitzte in seinen Augen und er schob eine Faust durch das zerzauste Haar. »Zum Teufel, Veum. Wenn was Neues auftaucht, werden wir es verfolgen. Aber wir können doch keine neuen Spuren herzaubern, jetzt nicht mehr, so lange danach. Wir haben getan, was wir konnten in der ersten Zeit, als die Spuren frisch waren und auf die Zeugen Verlaß war. Wir sind durch Presse und Rundfunk rausgegangen mit der Aufforderung, sich zu melden. Keine positiven Antworten. Und der Wagen war gestohlen. Es waren keine Fingerabdrücke an ihm zu finden – jedenfalls keine, die uns etwas sagten. Es gab nicht die Spur von Beweisen. Es könnte jeder X-beliebige sein. Er oder sie ist buchstäblich unsichtbar.«
»Unsichtbar?« wiederholte ich.
Vadheim näherte sich, zusammen mit dem Kripochef. Ich sagte nachdenklich, so leise, daß nur Hamre es hören konnte: »Als sei er in die Vergangenheit zurückgekehrt, aus der er kam …«
Hamre sah mich ungläubig an. Vadheim und der Kripochef blieben stehen. Ich begegnete dem Blick des Kripochefs durch die dicken Brillengläser. Das dunkle Haar war nach hinten gestrichen und die Stirn war hoch und gedankenvoll. Er streckte eine Hand aus und stellte sich vor. Ich tat dasselbe. Dann setzte er hinzu: »Ich habe von ihnen gehört, Veum.«
Aber er sah nicht so aus, als hätte ihn das, was er gehört hatte, sonderlich erfreut, also beließen wir es dabei.
Ich sagte: »Ich war ein naher Freund von Hjalmar Nymark.«
»So, tatsächlich?« sagte der Kripochef freundlich.
»Ich höre, ihr habt die Ermittlungen eingestellt?«
»Naja, eingestellt und eingestellt. Wissen Sie, Ermittlungen zu Todesfällen werden nie eingestellt, Veum. Taucht etwas Neues auf, dann …«
»Etwas Neues? Wie zum Beispiel? Weitere Leichen?«
»Also …« Es blitzte humorvoll hinter den Brillengläsern. »Warum denn so ungehalten?«
Hjalmar Nymarks ›Freunde und Kollegen‹ waren im Begriff, den kleinen Platz vor der Kapelle zu verlassen. Die drei Polizeibeamten machten mich nervös, als sei ich ein Pfadfinderjunge in einem theologischen Streitgespräch mit drei alten Bischöfen. Wir begannen, auf den Ausgang zuzugehen. Oben an Ulriken ragten die Masten der neuen Seilbahn auf, die sie nun endlich wieder in Gang bekommen hatten, nach dem Unglück 1974. Das Betrübliche war nur, daß niemand die Bahn benutzen wollte, die Fahrkarten waren teuer wie Zirkuskarten und die ganze Gesellschaft dabei, in Konkurs zu gehen.
Vor dem Tor fragte Vadheim, ob er mich in die Stadt mitnehmen könne. Ich dankte, sagte aber, daß ich gehen wollte, ich brauchte frische Luft. Vadheim und der Kripochef nickten freundlich zum Abschied, während Hamre nur einen undeutlichen Abschiedsgruß brummte, bevor sie sich alle ins Auto setzten, Hamre am Steuer.
Ich ging über Astadvollen und Kalfaret hinunter. Es hatte angefangen zu wehen, und ein feuchter Hauch von Nieselregen war in der Luft. In der Gegend, durch die ich ging, wohnten Menschen in großen, öden Villen, einige davon so groß und unpraktisch, daß man sich darin wie in überdimensionalen Rüstungen vorkommen mußte. Das hier war nicht Hjalmar Nymarks Viertel gewesen. In einem engen, kleinen Raum mit verblaßten Tapeten, unter dem Dach eines Altbaus, dort hatte er gelebt und dort war er gestorben.
Aber war es ein natürlicher Tod gewesen?
Während ich dem Gehsteig den Kalvedalsvei entlang folgte, oberhalb der Hansa-Brauerei entlang, mit Aussicht über Store Lungegårdsvann und das Fjell auf der anderen Seite der Stadt – Løvstakken, das Damgårdsfjell und ganz weit draußen Lyderhorn mit seinem langgestreckten, wachsenden Profil – schwor ich mir selbst, daß ich es nicht einfach dabei belassen würde.
Ich würde es herausfinden.
Wenn Hjalmar Nymark nicht eines natürlichen Todes gestorben war, würde ich das herausfinden, selbst wenn ich zehn, zwanzig, ja dreißig Jahre zurückgehen müßte, um den Schuldigen zu finden.
Unten am Stadttor kam der Regen, wie graues Wischwasser von einer runzligen Putzfrau irgendwo oben hinter den Wolken.

18

Ich ging auf eine Tasse Kaffee und ein halbes Brötchen ins Bahnhofscafé. Um mich her saßen Menschen mit Koffern und Rucksäcken neben sich auf dem Boden. Es war August und Spätsommer im Fjell. Noch hatten die letzten Sommertouristen sich nicht zur Ruhe begeben. Vielleicht träumten sie von sonnenbeschienenen Orten dort oben über der Wolkendecke. Oder vielleicht strebten sie nur auf die Höhen, wie Tiere es tun bei großen Überschwemmungen. Der Regen zeichnete lange, dünne Streifen an die Fenster zur Straße und ließ den Ausblick verschwimmen, als sähest du durch Gelatine.

Ich überquerte die Straße und ging zum Zwillingsgebäude nebenan: Bergens öffentliche Bibliothek. Die beiden Gebäude, der Bahnhof und die Bibliothek – waren aus demselben Material gebaut: großen, dunklen Granitblöcken. Vielleicht hatte man das getan, damit diese soliden Denkmäler zweier der Tugenden der Menschheit: Rastlosigkeit und Wissensdurst, die Tage des jüngsten Gerichts überleben sollten, die man sich vorzustellen am Anfang des Jahrhunderts noch die Phantasie hatte. Und da standen sie nun, in Erwartung der Neutronenbombe. Wenn alle Menschen verschwunden wären, würden sie vielleicht noch immer da stehen: der Bahnhof mit seinem ewigen Durchzug, kühl und ungemütlich, selbst mitten im Sommer; die Bibliothek mit ihren Regalen, die sich unter dem Wissen bogen, das trotz allem nichts geholfen hatte. Vom Bahnhof würden nach ewigen Fahrplänen unsichtbare Züge ausfahren, längst verrostete Gleise entlang; und durch die leere Bibliothek würden still, von Regal zu Regal, die Gespenster zeitloser Benutzer gehen, ohne ein einziges Buch herauszunehmen, ohne ein einziges Wort zu lesen.

Drinnen in der Bibliothek war kein Durchzug. Dort ruhte eine ewige Dämmerung, als seien die vielen Jahre, die sich in den Büchern verbargen, herausgesickert und hätten den Raum mit dem Nebel der Zeiten, dem Halblicht der Geschichte gefüllt.

Ich fragte, ob es möglich sei, Bergens Tidende vom April – Mai 1953 einzusehen und eine liebenswürdige, kleine, dunkelhaarige Frau mit großer Brille und grüner Cordhose ging nach unten ins Archiv und kam mit einer eingebundenen Ausgabe vom zweiten Quartal des Jahres zurück. Wäre ich in die Universitätsbibliothek gegangen, hätte ich das ganze auf Mikrofilm bekommen können, aber das machte mich immer verwirrt. Die Atmosphäre geht dir verloren, wenn du dich auf einem kleinen Bildschirm durch die Seiten arbeitest. Du verlierst den Kontakt mit dem Papier, vermißt den Duft, der noch an vergilbten Zeitungsseiten hängt, von Druckerschwärze, die vor langer Zeit einmal frisch war, und die Typen, von Typografen gesetzt, die jetzt wegrationalisiert waren, Bilder von Fotografen, die jetzt Rentner waren und Reportagen von Journalisten, die längst ihren letzten Bleistift gespitzt hatten.

Ich fand bald die Artikel über den Brand bei Pfau und erkannte mehrere der Reportagen aus Hjalmar Nymarks Ausschnittsammlung wieder. Ich notierte Namen, die ich finden konnte, blätterte weiter durch die Woche nach den ersten, dramatischen Tagen, zwei Tage nach dem Unglück erschien eine vollständige Liste der Umgekommenen. Ich notierte die Namen.

Dann blätterte ich weiter zu den Todesanzeigen. Ich notierte die Namen der Verwandten, die ich dort finden konnte. Lange betrachtete ich eine der Anzeigen, die von Holger Karlsen. Dem Mann, der die moralische Verantwortung für das Unglück zugeschoben bekommen hatte, dem Vorarbeiter, der nicht beachtet hatte, daß etwas nicht stimmte.

Mein geliebter Mann, mein herzensguter Vater, unser lieber Sohn Holger Karlsen,
wurde plötzlich
im Alter von 35 Jahren aus unserer Mitte gerissen. Sigrid
Anita
Johan – Else
und Angehörige

Sigrid – 1953 mit dem Nachnamen Karlsen – ob sie jetzt noch aufzufinden war? War sie noch am Leben, und wenn ja, würde sie dann mit mir sprechen wollen?

Zum Schluß überflog ich meine Liste. Die Namen, die ich am interessantesten fand, hatte ich unterstrichen. Es waren ungefähr dieselben wie damals im Juni, als ich eine entsprechende Liste angefertigt hatte. Elise Blom – weil sie bei Pfau gearbeitet und später mit Harald Wulff zusammengelebt hatte. Olai Osvold (den sie ›Brandstelle‹ nannten), der das Unglück überlebt hatte. Sigrid Karlsen, die mir vielleicht etwas erzählen konnte, wovon ich noch nichts wußte. Und dann Konrad Fanebust – weil er nach dem Unglück die Untersuchungskommission geleitet hatte und den Informationen, die ich von Hjalmar Nymark erhalten hatte, vielleicht etwas hinzufügen konnte.

Zum Schluß fügte ich noch einen Namen in die Liste ein: Hagbart Helle(bust). Neben seinen Namen schrieb ich ein Datum: 1. September. Das war der eine Tag im Jahr, an dem er Norwegen besuchte, und diesen Tag hatte ich schon reserviert.

Nun hatte ich eine Skizze, den Ansatz eines Plans. Aber ich brauchte bessere Hintergrundinformationen und glaubte zu wissen, wo ich sie bekommen konnte.

Von der Garderobe aus rief ich die Zeitung an und fragte, ob Ove Haugland im Hause sei. Das war er und wir machten ab, daß ich kurz heraufkommen sollte.

19

Ein Verlagshaus ist wie ein Bienenstock. Jede winzige Journalistenkabine ist eine Wabe, in der die Arbeitsbiene ihren SchwarzWeiß-Honig produziert, zur Freude braver Feierabendbürger, die gefräßig von Seite zu Seite hasten, auf der Jagd nach einem Skandal – oder vielleicht einer Neuigkeit.

Ich fand Ove Haugland in seiner Kabine, im vierten, eine Etage über der Chefredaktion. Es muß ein Prinzip geben bei der Konstruktion dieser schmalen, kleinen Büros, die nur an einen Ort zu führen scheinen: zur Schreibmaschine. Der Raum selbst erzwingt Konzentration und wird sofort zu klein, wenn ein Mensch hereinkommt, um interviewt zu werden. Wenn die ,Frauenfront’ mit vier Gesandtinnen ankommt, um sich über die neuesten männlich-chauvinistischen Entgleisungen des Blattes zu beschweren, wird er übervölkert und alles mögliche kann geschehen.

Als ich Ove Haugland das letzte Mal gesehen hatte, hatte er mich an Montgomery Clift nach dem Autounfall erinnert. Das tat er immer noch, aber er war im Gesicht merklich magerer geworden, ein schwacher Anstrich von Silber war in dem dunklen Haar und jetzt – über der Schreibmaschine – trug er eine Lesebrille mit dicken Gläsern: Montgomery Clift in der Filmversion von ›Miss Lonelyhearts‹.

Er saß krumm über die Maschine gebeugt, starrte auf den letzten Satz, den er geschrieben hatte und blätterte zerstreut in einem dicken Katalog, der ein Steuerregister hätte sein können.

Ich streckte den Arm durch die offene Tür und klopfte an der Innenseite und er sah abrupt auf, über seine Brillengläser hinweg. Die Bartstoppeln waren dunkel, er trug eine dunkle Terylenhose und ein grauweißes, am Hals offenes Hemd. Über einem Stuhl hingen eine moosgrüne Strickjacke und ein brauner Schlips. An einem Haken hinter ihm hing ein blauer Mantel. Sein Fenster ging zum Hinterhof hinaus. In einem Fenster gegenüber stand ein dicklicher Mann und starrte in die Luft, während er etwas in ein Diktiergerät sprach. Es war, als spräche er mit uns durch ein Telefon, das nicht funktionierte.

Ove Haugland erhob sich unbeholfen und sagte: »Hallo!« Ich trat ein, und das Büro schrumpfte. Der Stuhl, auf den ich mich setzte, war leer, aber daneben auf dem Boden lag ein Stapel alter Zeitungen, also hatte er ihn wohl freigeräumt, bevor

ich kam. Auf einem kleinen Tisch in einer Ecke stand etwas, das wie ein Privatarchiv aussah, in einer schmutzigen Plastikkassette. Grüne und rote Karteikarten mit fast unlesbaren Stichworten ragten heraus und ich sah die abgerissenen Kanten alter Zeitungsausschnitte, Computerauszüge, Fotokopien und ähnlichem.

Im Regal über seinem Schreibtisch stand eine Reihe dicker Bücher: Geschäftskataloge, Schiffslisten, Steuerregister und solche Dinge, die jemand, der in wirtschaftlichen Angelegenheiten als der größte Experte der Zeitung galt, interessieren mußten. Vor ein paar Jahren hatte ich ihm ein paar Informationen gegeben zu einer Sache, die ihm eine Riesenschlagzeile hätte bringen können – wenn nicht sein Redakteur so lange gezögert hätte, sie in Druck zu geben, bis sie längst in den beiden anderen Zeitungen der Stadt und in der halben Oslo-Presse stand. Vielleicht war ihm das eine Lehre gewesen. Vielleicht hatte er deshalb graue Haare bekommen.

An seine Frau erinnerte ich mich auch. Ich hatte sie in der Stadt gesehen. Sie hatte solch lila, träumende Augen, in denen du irgendwie nie den Grund findest, und wenn wir uns begegneten war ich mir nie ganz sicher, ob sie mich wirklich erkannte.

Er hatte etwas Wehmütiges, oder vielleicht Bitteres an sich. Ich würde darauf achten, nicht nach seiner Frau zu fragen. Es war besser, kein Risiko einzugehen.

Ich sah mich um und sagte: »Gemütlich hast du es hier. Ein paar Quadratmeter dazu, und ich würde mich fast wie zuhause fühlen.«

Er lächelte schief. »Ich dachte, du hättest eine schöne Aussicht, Veum.«
»Mmh. Das ist aber auch alles.« Ich sah hinaus auf seine.
Der Mann mit dem Diktiergerät war jetzt weg.
»Ein bißchen ablenkender als deine vielleicht.«
Er blickte blind zum Fenster. »Es ist ewig her, daß ich sie überhaupt gesehen habe.«
Ich sagte: »Tja, um direkt zur Sache zu kommen. Das hier liegt vielleicht etwas vor deiner Zeit, aber …«
Er sah mich neugierig an. »Aha?«
»Aber, sag mal … Was weißt du über Hagbart Helle?«
Er ließ einen langen Pfiff los.
»Hagbart Helle … Was willst du mit ihm?« Er sah auf die Uhr.
»Halt ich dich auf?«
»Nein, nein. Ich sehe nur aufs Datum. Du weißt vom – 1. September?«
»Ja, ich weiß davon. Aber wir haben doch erst den … Ja.«
Er nickte und sah leicht enttäuscht aus.
»Das wußtest du also. An einem Tag im Jahr, und zwar jedes Jahr, kommt er nach Hause. Weil sein Bruder, der eine Trikotagenfabrik leitet, an dem Tag seinen Geburtstag feiert. Mehrere Jahre lang hab ich versucht, an diesem Tag mit Hagbert Helle ein Interview zustande zu kriegen, aber es war unmöglich. Er lehnt es ab, sich zu äußern und versucht überhaupt, jegliches Aufsehen zu vermeiden. Fotografen zum Beispiel …«
Er drehte sich mit dem Stuhl herum und blätterte in seinem Archiv. Er suchte ein Pressefoto heraus und gab es mir. Es war körnig und undeutlich und wirkte wie mit Teleobjektiv oder unscharfer Einstellung aufgenommen. Auf dem Rücksitz eines großen schwarzen Wagens saß ein Mann mit einem mageren, krummnasigen Gesicht und fast weißem Haar, leicht vornübergebeugt, als würde er auf die Fahrbahn starren oder etwas zum Fahrer sagen. Ich sah fragend auf.
Ove Haugland nickte. »Hagbart Helle. Das einzige Bild, das ich habe, neueren Datums.«
Er gab mir ein anderes Foto. Ein dunkelhaariger, ernster junger Mann blickte in die Kamera, in einer Anzugjacke, die ihn ans Ende der dreißiger Jahre versetzte, und mit einem Gesichtsausdruck wie eine enttäuschte Schnecke.
»Jugendportrait.«
Ich sah von einem Bild zum anderen. Die Ähnlichkeit war nicht gerade groß, aber schließlich waren die Bilder auch im Abstand fast eines halben Jahrhunderts aufgenommen.
Ove Haugland fuhr fort: »Vor ein paar Jahren schrieb ich eine Artikelserie über unsere ausgeflaggten Reeder. Ein paar von ihnen gehören zu den reichsten der Welt, natürlich abhängig von Konjunkturen und Kriegen, aber trotzdem. Und Hagbart Helle gehört jedenfalls nicht gerade zu den Geringsten unter ihnen.«
»Auf wieviel schätzt du ihn?«
Er machte eine ausladende Handbewegung. »Wie entstand das Universum? Es wäre alles nur Vermutung. Hundert Millionen, eine Milliarde. Unmöglich zu sagen. Das wäre eine Forschungsaufgabe, die ein paar Jahre in Anspruch nähme. Du müßtest all seine Aktienposten in Gesellschaften, Firmen, Kreditinstituten und Reedereien auf der ganzen Welt durchforsten, seinen Besitz aufzählen, der sich auf mehr Länder verteilt, als du jemals gesehen hast …«
»Ohja?«
»Würde ich meinen.«
»Ich bin auf See gewesen.«
»Fahrzeuge auf mehr Meeren, als du je befahren hast, und so weiter und so weiter.«
»Er ist also – könnte man sagen – ein mächtiger Mann?«
»Wenn Geld Macht bedeutet, dann ist Hagbart Helle ein mächtiger Mann – ja, Veum.«
»Und Geld bedeutet Macht. Leider.«
»Und wie ist er so reich geworden?«
»Wie entstand das Universum? Wie …«
»Ich interessiere mich nicht für das Universum. Ich interessiere mich für …«
»Hagbart Helle.«
»Genau.«
»Aber warum, Veum?« Er beugte sich plötzlich vor und starrte mir intensiv ins Gesicht. »Warum interessierst du dich für ihn?«
Ich sah an ihm vorbei, aus dem Fenster, zu den Fenstern gegenüber. Eine Frau ging vorbei mit einer Mappe unter dem Arm. Vielleicht hatte sie die Botschaft vom Diktiergerät aufgeschrieben. Nur die Unterschrift fehlte. Die Welt wartete.
»Du hast deinen Job zu machen, Veum – wenn man es so bezeichnen kann. Ich habe meinen. Bis zum ersten September ist es nicht mehr so lange hin. Vielleicht gibst du mir die Möglichkeit, den Tag mit einer netten, kleinen Story zu begehen?«
Ich nickte. »Ich bin immer zu einem Handel bereit. Du gibst, was du hast und ich gebe das meine.«
»Also erzähl, Veum. Warum interessierst du dich für Hagbart Helle?«
»Ich interessiere mich für Namen. Es gab eine Zeit, da hieß er Hellebust, weißt du.«
Er blickte erstaunt, eine Sekunde oder zwei. Dann gewann er die Fassung wieder. »Erzähl mir lieber, worum es geht.«
»Also. Das ist eine verzwickte alte Geschichte, in die ich da zufällig hineingeraten bin. Es dreht sich um einen alten Industriebrand, vom Frühjahr 1953. Eine Fabrik, die Pfau hieß, und oben im Fjøsangervei lag. Fünfzehn Menschen kamen ums Leben, und der Fabrikbesitzer bekam eine ansehnliche Versicherungssumme ausgezahlt. Er investierte das Geld vernünftig und …«
»Ich kenne die Geschichte. Ich habe die Vorgeschichte Hagbart Helles gründlich studiert.«
»Soso. Oder Hellebusts, wie er damals also hieß.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Ein Freund von mir, ein Polizist …«
»Merkwürdige Freunde hast du.«
»Pensioniert. Er war an den Ermittlungen zu dem Fall beteiligt, zusammen mit unter anderem Konrad Fanebust.«
»Hellebust und Fanebust. Der nennt sich dann womöglich Konrad Fane, heute?«
Ich sagte: »Erzähl mir nicht, daß du nicht weißt, wer Konrad Fanebust ist, Bürgermeister von Bergen von …«
Er hob abwehrend die eine Hand. »Konrad Fanebust, bekannter Bergenser Politiker und Geschäftsmann, Bürgermeister von Bergen
1955-59, leitete die Schiffsmaklerfirma Fanebust &Wiger zusammen mit seinem Kompagnon, William Wiger, der allerdings ums Leben kam, als sein Haus abbrannte, das war wohl so ungefähr 1972-73, und hat sie danach allein geleitet.«
»Du vergaßt den Kriegshelden.«
Er legte das Gesicht in traurige Falten. »Ich vergaß den Kriegshelden. Konrad Fanebust, bekannter Bergenser Kriegsheld aus den tapferen Kämpfen am Sørfjord im April 1940 …«
»Danke, das reicht.«
»Also dann, zurück zu Helle. Willst du noch mehr wissen? Hast du etwas über ihn?«
»Über ihn?«
»Ich gehe davon aus, daß du, wenn du dich in all das einmischst, doch von irgendwas Wind bekommen haben mußt. Wenn es um den Brand geht, ist die Sache wohl bald verjährt, und wenn du Beweise hast, solltest du sie zeitig genug vor dem 1. September der Staatsanwaltschaft vorlegen, damit sie mit einem gebührenden Empfangskomitee auf Flesland stehen können. Und genau dann wäre ich auch gerne da, Veum, mit Fotograf und allem Drum und Dran. Wenn du mir die Story versprechen kannst, bin ich auf ewig dein, wann auch immer und wie auch immer.«
»Du sprichst immer noch vom Geschäft, stimmt’s?«
Ein Anflug von Nachdenklichkeit huschte über sein Gesicht. Dann lächelte er unbeholfen und sagte: »Ja.«
»Also gut. Ich bin wohl hauptsächlich darauf aus … Ich will ganz ehrlich sein. Ich habe absolut nichts über Hagbart Helle. Gar nichts. Ich bin mehr auf seinen – Charakter aus. Ist er nur ein Steuer-Emigrant, ein smarter Geschäftsmann, Idealist – oder was?«
Ein höhnischer Zug legte sich um seinen Mund. »Du und ich, Veum, wir sind Idealisten. Guck dir unsere verschlissenen Jacken an, die abgelaufenen Schuhe, unsere blanken Hosenknie. Geschäftsleute auf internationalem Topniveau sind keine Idealisten. Mäzene vielleicht – wenn es sich lohnt. Und goodwill lohnt sich. Aber nie aus Idealismus. Interessiert an Wissenschaft und Kultur – als Investitionsobjekte, aber nie aus Schönheitssinn oder Wissensdurst. Leute wie Hagbart Helle sind skrupellose, brutale Gauner – sonst wären sie nie dahingekommen, wo sie sind. Du kommst heute nicht an die Spitze der internationalen Finanzwelt, ohne über Leichen zu gehen, im wahrsten Sinne des Wortes.«
Ich sagte nachdenklich: »Fünfzehn Leichen, im Fjøsangervei.«
»Zum Beispiel. Aber wenn es das ist, worauf du hinauswillst, dann muß es bewiesen werden.«
»Ich weiß das. – Du hast also nicht mehr?«
»Leider, Veum. Ich hätte es dir gerne gesagt. Aber der Mann ist eine Sphinx, eine Greta Garbo der Finanzwelt – du siehst das Bild da. Dieser Mann eröffnet keine Museen, die er finanziert hat, tauft keine Supertanker, hält keine Reden auf Kongressen. Dieser Mann sitzt hinter seinem Schreibtisch und zählt Geld, Geld, Geld.«
Ich seufzte. »Tja, eine ganz andere Sache. Überhaupt nicht deine Abteilung, aber … könntest du nicht mal im Fotoarchiv untersuchen, ob ihr ein Bild von einem Mann habt, der Harald Wulff hieß?«
Er ließ den Namen auf der Zunge zergehen.
»Harald Wulff?«
»Er war Kollaborateur und arbeitete als Bürobote in Hagbart Helles Fabrik, damals, als sie abbrannte.«
Er sah mich forschend an. »’Ne heiße Spur, Veum?«
Ich fügte hinzu: »Und er starb 1971.«
Er betrachtete mich resigniert. »Gut, gut. Ich werde mal sehen.« Er erhob sich. »Einen Moment nur.«
»Wulff mit zwei f«, sagte ich.
Ich blieb allein und sah aus dem Fenster. Niemand zu sehen in irgendeinem Fenster. Vielleicht war Mittagspause, oder sie waren nach Hause gegangen.
Ove Haugland kam mit zwei Fotos zurück. Das eine war das gleiche, das Hjalmar Nymark mir gezeigt hatte, nur in größerem Format. Das andere war ein Portrait von Wulff allein, im Zeugenstand, während des Gerichtsverfahrens. Der Winkel war ungefähr der gleiche, aber die Gesichtszüge waren deutlicher: Das lange, pferdeartige Gesicht, die kräftige Nase, die großen Ohren und die dunkle Haarsträhne, die fast wie eine Mähne in die Stirn fiel. Er hätte Pferd heißen sollen, nicht Wulff.
»Kann ich sie ausleihen?«
»Selbstverständlich. Hier hat keiner Verwendung dafür. Aber bring sie zurück, wenn du mit der Story kommst, ja, Veum?«
Ich versprach es, bedankte mich und ging.

20

Ich nahm den Fahrstuhl hinauf in mein Büro. Als ich ausstieg, stieß ich auf die neue Zahnarzthelferin. Sie hatte dunkles Haar, das stramm am Kopf anlag und im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden war. Zwei Dinge fielen ihr leicht: zu lächeln und zu erröten. Sonst gab es keinen Grund, warum sie beides tat, jedesmal, wenn sie mich sah.

Ich hielt ihr die Fahrstuhltür auf und sagte: »Du mußt mal bei mir im Büro vorbeikommen. Dir die Aussicht ansehen.«

Sie sah in die Richtung meiner Bürotür. »Da, meinst du?« »Ja.«
»Die kann doch kaum großartig anders sein, als bei uns drinnen.«

»Es ist immer eine andere Perspektive aus einem anderen Büro«, sagte ich in einem feierlichen Tonfall.
Sie lächelte, errötete und ging an mir vorbei in den Fahrstuhl. Der Pfeil, der anzeigte, in welchem Stockwerk der Fahrstuhl sich befand, ging im Kreis herum. Ich folgte ihm mit dem Blick. Wer weiß, vielleicht würde er plötzlich stoppen und wieder anfangen, sich nach oben zu bewegen. Aber solche Dinge geschehen nie.
Ich durchquerte das Wartezimmer, als sei ich ein Gespenst meiner selbst. Niemand schreckte aus den Stühlen auf, keine Blondinen, die mir mit tränennassen Knipplingstaschentüchern entgegenkamen. Die Stille brütete über dem Raum, wie eine Henne über einem Steinei.
Ich schloß das Büro auf, wischte den Staub vom Telefonbuch und schlug den Namen Karlsen auf. Er füllte gut und gern eine Seite. Zu meiner Überraschung fand ich auch eine, die Sigrid hieß – und sogar nur eine. Sie wohnte im Ytre Markvei. Das war nicht ganz meine Gegend von Nordnes, aber ich kannte mich dort gut aus.
Es gab keinen Grund, zu zögern. Ich wählte die Nummer und lauschte der Lieblingsmelodie des Telegrafenamts. Aber niemand nahm ab.
Da ich nun das Telefonbuch noch vor mir hatte, schlug ich es erneut auf. Konrad Fanebust war leicht zu finden. Er hatte sowohl eine Geschäftsadresse, als auch Privattelefon. Seine Firma lag in der Olav Kyrresgate; er selbst wohnte im Starefossvei.
Dann war Elise Blom dran. Es gab weniger Bloms als Karisens, aber keine Elise. Das hätte übrigens auch gerade noch gefehlt. Wenn es so einfach wäre, wäre ich bald arbeitslos. Die Leute könnten sich anstelle eines Privatdetektivs ein Telefonbuch mieten und es war durchaus nicht gesagt, daß sie damit schlechter bedient wären.
Meine gewöhnlich so säuerliche Freundin beim Einwohnermeldeamt konnte mir allerdings helfen. Sie mußte wohl ausgeruht sein nach den Ferien, denn sie bat mich nicht einmal um Bedenkzeit. Im Laufe einer Minute gab sie mir die Anschrift, unter der Elise Blom seit 1955 gemeldet war. Sie besaß ein Haus im Wesenbergssmau.
»Das gehört ihr also?«
»So steht es da. Sie kaufte es im April 1955.«
»Aber Telefon hat sie nicht?«
»Es sieht nicht so aus.«
»Hmm.«
»Bist du zufrieden?«
»Du bist unersetzlich«, sagte ich und meinte es auch. Ich mußte meine Theorie eine Spur revidieren. Es war doch nicht mit einem Telefonbuch getan. Man brauchte auch eine gute Freundin beim Einwohnermeldeamt.
Ich sagte: »Ich wünsche dir ein langes und glückliches Leben beim Meldeamt. Bestell schöne Grüße.«
»Wem? Etwa …?«
»Dem Meldeamt.«
»Oh. Ich dachte …«
»Wie geht’s ihr denn? Deiner Schwester.«
Ich hörte deutlich, wie sie aufstrahlte. »Ihr geht es richtig gut, Varg. Sie hat gerade ein Kleines gekriegt.«
»Möge auch dem Kleinen ein langes und glückliches Leben beim Meldeamt beschieden sein. Falls dir einfallen sollte, aufzuhören. Aber tu das nicht. Und mach’s gut.«
»Mach’s gut.«
Doch, sie mußte schöne Ferien gehabt haben. Oder aber es gefiel ihr, Tante zu sein.
Ich versuchte es noch einmal mit der Telefonnummer von Sigrid Karlsen. Jetzt war jemand zuhause. Eine altersmäßig unbestimmbare Frauenstimme antwortete: »Ja, hallo?«
Ich räusperte mich und sagte: »Guten Tag. Äh, mein Name ist Veum und ich rufe an, weil … Es hört sich vielleicht ein wenig dumm an, aber, waren Sie einmal verheiratet mit … war ihr Mann ein Holger Karlsen?«
Ich sagte seinen Namen deutlich, damit es keinen Raum für Mißverständnisse gab.
Die Antwort kam zögernd. »Ja-a. Worum geht es?«
»Hören Sie. Ich rufe an anläßlich – es ist ja schon lange her – dieser Brand bei Pfau. Es gibt da einiges in dem Zusammenhang, worüber ich gerne mit Ihnen sprechen würde.«
Der Tonfall war nach wie vor unsicher. »Ich versteh nicht ganz. Wie sagten Sie war Ihr Name?«
»Veum. Ich bin – also ich stelle Ermittlungen an, und da sind verschiedene Dinge aufgetaucht. Ich verstehe, daß diese Sache Ihnen sicher wehtut, aber ich glaube, wir könnten – wie soll ich sagen – gemeinsame Interessen haben.«
»Sind Sie von der Polizei?«
»Nein. Ich betreibe eine private Firma.«
Das hörte sich hoffentlich einigermaßen respektabel an. Ich warf einen beschämten Blick durch meine private Firma. Ich würde sie wohl kaum zu einer Besichtigung einladen. »Aber ich weiß nicht, ob Sie sich an einen Polizisten namens Hjalmar Nymark erinnern?«
»Dooch!«
»Er ist tot. Und kurz bevor er starb, erzählte er mir so einiges.« Ihre Stimme verhärtete sich. »Was die Polizei die ganze Zeit gewußt hat?«
Ich antwortete schnell: »Nein, nein. Eher ein paar Theorien, die er hatte, aufgrund gewisser Vermutungen.«
»Aber was meinen Sie damit, daß wir – gemeinsame Interessen haben sollten?«
»Ich meine, daß Grund besteht, zu glauben, daß Ihr Mann endlich entlastet werden könnte.«
»Wenn es Geld ist, worauf Sie aus sind, äh – Veum, dann kann ich Ihnen versichern, daß …«
»Überhaupt nicht, Frau Karlsen. Das versichere ich Ihnen. Ich interessiere mich für Ihre Sicht der Sache, Ihre Gedanken darumherum, was Sie auch zu erzählen haben mögen. Ich brauche Ihre Zeugenaussage, sozusagen. Das ist alles. Vorausgesetzt, daß Sie nicht meinen, es sei zu schmerzhaft, in all dem nochmal herumzugraben.«
»Glauben Sie mir, Veum – gerade das macht gar nicht so viel. Ich werde sowieso mit der Geschichte niemals fertig. Ich habe die letzten 28 Jahre darin herumgegraben, also …«
»Könnte ich einmal bei Ihnen vorbeikommen?«
Es entstand eine kleine Pause. »Gerade heute paßt es nicht so gut. Aber wenn Sie morgen kommen könnten, recht früh?«
»Was meinen Sie mit recht früh?«
»Neun, halb zehn? Sie kriegen auch Kaffee …«
»Das klingt ausgezeichnet. Dann ist das abgemacht, ja?«
»In Ordnung.«
Wir sagten Auf Wiedersehen und legten auf. Ich blieb, wie schon so oft, sitzen und starrte aus dem Fenster. Es war Nachmittag geworden. Vågen lag grau und flach da, der Fjellhang mit den matten Augustfarben, von vereinzelten braungrünen Flächen durchsetzt, dort, wo die ersten Blätter nach dem monatelangen Regen schon zu verfaulen begonnen hatten. Und der Himmel darüber: grauweiß und undurchdringlich.
An diesem Tag war Hjalmar Nymark zu Asche geworden und ich hatte meine allererste Verabredung in dieser Angelegenheit getroffen.